Die Schreckenskammer
anzurichten, bedroht wurde von den unsympathischen Lakaien der Steuerzahler, mich eingeschlossen. Ihr hervorstechendstes Merkmal war eine kaum gezähmte Mähne tiefroter Haare mit einer weißen Strähne auf Bonnie-Tyler-Art. Eine Furcht einflößende Frau, stahlhart, und zwar jede Sekunde.
»Na, dann wird er wohl keine Schwierigkeiten haben, einen Anwalt zu bekommen, falls er wirklich der Kerl ist, den ich suche.«
»Wahrscheinlich nicht. Die Familie ist von der gut betucht irischen Sorte, allerdings nicht so reich wie die Kennedys, nur wohlhabend. Jim Durand war der zweite Mann seiner Mutter. Der erste, Brian Carmichael, starb jung. Hat ihr eine ganze Horde Kinder hinterlassen. Sie sollten wirklich mit jemandem aus der Familie reden.«
Er sagte das immer wieder. Ich wollte ihn unbedingt fragen, warum, aber es erschien mir noch zu früh.
Das Revier von South Boston hatte keinen eigenen Parkplatz, die blau-weißen Einsatzwagen parkten in Mehrfachreihen vor dem Gebäude. Moskal bugsierte sein Auto in die erste Lücke, die er sah.
»Und ich dachte, wir hätten Parkprobleme.«
»Sind Ihre Straßen so schmal?«
»Nein.«
»Dann haben Sie noch nicht gelebt.«
Er schenkte mir wieder ein großes, breites Lächeln und brachte mein Herz zum Schmelzen. »Wenn Sie wissen wollen, was ein Stau ist, schauen sie sich den Südost-Ring an einem verschneiten Freitagnachmittag um vier an.«
Es war ein komisches Spiel des Immer-noch-eins-Draufsetzens, aber es machte Spaß und entspannte die Atmosphäre. Kaum hatten wir das heruntergekommene Gebäude betreten, wusste ich, dass er den Wettbewerb um das schlechteste Büro spielend gewinnen würde. Moskals Schreibtisch stand in der Ecke eines Zimmers mit fleckiger Decke und rostenden Heizungsrohren.
»Willkommen in meinem Reich«, sagte er. »Wenn man es denn so nennen kann.«
Die Akten lagen, ordentlich aufgestapelt und ausgerichtet, am Rand des von Initialen vernarbten Schreibtisches. Er nahm den Stapel und gab ihn mir. »Damit sollten Sie eine Weile beschäftigt sein. Ich will mir gerade mal Kaffee holen. Möchten Sie auch was? Der Donut-Laden ist gleich um die Ecke. Die haben Bagels und Muffins und das ganze Zeug.«
Ich bat um einen Kaffee und ein Blaubeer-Muffin und versuchte, ihm Geld zu geben. Er lehnte es ab und ließ mich mit den Akten allein. Sie lagen schwer in meinem Schoß, deshalb legte ich sie wieder auf den Tisch und nahm die erste zur Hand. Dann vertiefte ich mich in den geschriebenen Bericht.
Der erste Junge, der in South Boston verschwunden war – Michael Patrick Gallagher – war dreizehn Jahre alt, sah aber jünger aus, ein klassischer »guter Junge«, der in der Schule gute Leistungen zeigte und nie in Schwierigkeiten kam. Er wurde zum letzten Mal mitten am Nachmittag vor einem Eckladen in South Boston gesehen, wo er Pennies und Nickels aus seinen Taschen kramte, um sich einen Schokoriegel und Kaugummi zu kaufen. An dieser Ecke trennte er sich von einer kleinen Gruppe seiner Kameraden. Gegen 15 Uhr 30 hätte er zu Hause sein sollen, aber es war Freitagnachmittag, und da war es nicht ungewöhnlich, dass Michael länger ausblieb, falls er nur wenig oder gar keine Hausarbeiten hatte. Als er nach 19 Uhr noch immer nicht aufgetaucht war, telefonierte seine Mutter nervös in seinem engsten Freundeskreis herum, was sich jedoch als nutzlos erwies. Um 19 Uhr 20 rief sein Vater die Polizei an. Ein Streifenwagen wurde über Funk zu den Gallaghers geschickt. Der Beamte, der den Funkspruch wegen des Verschwindens entgegengenommen hatte, eröffnete die Ermittlungen mit den üblichen Fragen an die Eltern: Hatten sie Grund zu der Annahme, dass er davongelaufen sein könnte, weil er vielleicht Schwierigkeiten in der Schule oder zu Hause hatte? Wussten sie überhaupt, ob er in der Schule Schwierigkeiten hatte? Hatte es in letzter Zeit eine feststellbare Veränderung im Verhalten des Jungen gegeben? Nichts dergleichen.
Der Beamte durchsuchte das Haus, um auszuschließen, dass Michael vielleicht unbemerkt nach Hause gekommen und irgendwo eingeschlafen war, oder schlimmer, dass er ohnmächtig geworden war und die Rufe seiner Eltern nicht hören konnte. Innerhalb kürzester Zeit konnte er feststellen, dass der Junge nicht im Haus war und die Eltern ihm insofern die Wahrheit gesagt hatten, als es sich hier also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um einen durchgebrannten Teenager handelte, dessen Familie gar nicht wusste, dass er in seinem Leben Schwierigkeiten hatte. Michael
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