Die Schreckenskammer
Priester zu bekommen, denn die Pest galoppierte durch die Klöster wie auf dem schnellsten Ross. Es gab nicht genug Lebende, um die Toten zu begraben, und wir mussten mit dem zurechtkommen, was wir hatten. Oft war der letzte Überlebende der Einzige, der sich um die Seelen derer kümmern konnte, die vor ihm zugrunde gegangen waren. Und auch wenn dieser letzte Überlebende sich schon im kalten Griff des Todes wand, sprach er doch alle, die vor ihm gestorben waren, von Sünden frei. Du wirst doch nicht sagen wollen, dass all diese Seelen des Teufels waren, nur weil es ihnen der göttlichen Gnade ermangelte.
Te absolvo, sagte sie über Eurem Sohn. Und ich bin überzeugt, dass diese Worte die erforderliche Wirkung hatten.
Sie war eine so gute Frau gewesen, rein in ihrer Seele und gut in ihrem Herzen. Ich musste einfach glauben, dass ihre Worte Michels Erlösung bewirkt hatten.
»Nun«, sagte ich, während mir die Tränen über die Wangen rannen, »es tröstet mich, dass er nicht ohne Absolution blieb. Aber ich kann nicht ruhen, bis … ich muss einfach wissen … wie in Gottes Namen kam er zu Tode?«
Lass uns ihn weiter freilegen, sagte sie.
Aber das dürfen wir nicht tun. Wir müssen ihn in Frieden ruhen lassen.
Nein, beharrte sie, hier ist ein Geheimnis zu lüften. Ein Junge legt sich nicht auf die Erde und begräbt sich derart vollkommen selbst als Vorbereitung auf einen Tod, von dem er sicher weiß, dass er kommen wird. Er war noch einige Dezennien von seinem natürlichen Ende entfernt.
Also entfernten wir allen Schlick und Sand von seinem Leichnam, und durch die feine Kiesschicht, die noch auf ihm blieb, sahen wir die Wunde, die ihn offenbar niedergestreckt hatte. Denn sein Hemd war in der Mitte aufgerissen, und seine Eingeweide waren herausgezogen worden.
Tränen liefen mir über die Wangen, tropften auf die Brust meiner Tracht und von dort auf meinen Schoß. Mein ganzer Mut hatte mich verlassen, und durch meine Adern rann kein Blut, sondern scharfes und giftiges Quecksilber, das meine Seele zu Eis erstarren ließ. Er war also unter Schmerzen gestorben.
Wir lehnten uns einen Augenblick zurück und betrachteten, was wir freigelegt hatten. Mère stieß leise eine wüste Verwünschung aus und bat mich dann, seine Arme ganz freizulegen. Sie trug immer ein Messer in ihrem Strumpf- sie sagte, Grandpère habe ihr das beigebracht –, und das war ihr schon viele Male sehr nützlich gewesen. Nun schnitt sie damit die Brust des Knabenhemdes heraus, faltete sie sorgfältig und steckte sie in die Tasche ihrer Schürze.
Damit ich die Wunde besser sehen kann, sagte sie. Es nützt mir nichts, wenn sie verdeckt ist.
Nun betrachteten wir den Riss im Bauch genauer. Sie berührte ihn behutsam mit ihren Fingern und schob die Gedärme beiseite, um zu sehen, von welcher Stelle sie kamen. Und dann fluchte sie noch einmal. Wir müssen etwas tun, sagte sie zu mir. Wir können ihn nicht hier liegen lassen.
Es ist Gotteslästerung, die Toten wieder auszugraben, ermahnte ich sie. Das war doch der Grund für die Schwierigkeiten deines Vaters, nicht? Man wird uns sicherlich hängen, wenn wir dabei ertappt werden.
Wir werden sicherlich in der Hölle verfaulen, wenn wir nichts tun, entgegnete sie beharrlich. Diese Wunde ist nicht das Werk eines Keilers. Es wird für alle Ewigkeit auf unseren Seelen lasten, wenn wir nichts tun. Und ich habe schon genug auf meiner Seele.
Alle meine Einwände und Ermahnungen halfen nichts. Immerhin brachte ich sie so weit, dass sie bereit war, mit mir nach Hause zurückzukehren, damit wir uns dort ausruhen und ohne unnötige Hast überlegen konnten, wie wir weiter vorgehen sollten. Nachdem dies beschlossen war, machten wir uns daran, den Leichnam wieder zu bedecken. Inzwischen war Mère aber schon recht steif, denn sie hatte bereits eine ganze Weile gekniet, und ihre Knie waren nicht mehr die einer jungen Frau; ich glaube, sie war damals schon über siebzig. Ich hieß sie aufstehen, um ihre Gelenke zu entlasten, und legte die restlichen Steine alleine auf. Als sie sich ganz aufgerichtet hatte, drehte sie sich um und schaute hinter uns. Ich hörte sie aufstöhnen und schaute in die Richtung, in die sie starrte. Oben auf der Anhöhe sah ich eine Gestalt auf einem Pferd. Es war der Großvater, Jean de Craon.
Sie hatte kaum von ihrer Familie gesprochen, und wenn, dann erzählte sie nur, dass ihr père ein Meister der Heilkunst gewesen sei.
Er hatte Königen und Prinzen gedient und bei
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