Die Schreckenskammer
den berühmtesten Lehrern studiert, woraus er den allergrößten Nutzen gezogen hatte. Doch im Verlauf seiner Studien und der anschließenden Ausübung der cyrurgerie hatte er Leichen exhumiert und seziert, was die Kirche aufs Strengste verboten hatte. Doch der Mann war schon lange tot und mit Strafe nicht mehr zu erreichen.
»Kannte Jean de Craon die Geschichte ihres Vaters?«
»Ich glaube, er wusste genug.«
»Aber er konnte nichts tun, um ihr zu schaden; die Verbrechen ihres Vaters waren nicht die ihren.«
»Milord Jean würde da wahrscheinlich anderer Meinung sein.«
»Das kann er auf seinem Platz in der Hölle ruhig sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Richter die Tochter für die Verbrechen ihres Vaters zur Verantwortung zieht.«
»Gott zieht uns alle für die Sünden unserer Väter zur Verantwortung.«
»Ja, schon«, sagte ich ungeduldig, »aber das ist etwas ganz anderes – die Sünden, mit denen wir auf die Welt kamen, nicht die Sünden, die wir selbst begehen.«
»Meine Mutter hatte eigene Sünden, für die sie sich verantworten musste«, sagte er leise. »Milord Jean hatte die Mittel, sie zum Schweigen zu bringen. Es gab Geheimnise, die sie bewahren musste. Ansonsten, das kann ich Euch versichern, hätte sie durchaus laut ausgesprochen, was sie für die Wahrheit in Bezug auf den Tod Eures Sohnes erachtete.«
Ich hatte beinahe Angst, weiter in ihn zu dringen. Aber nun war ich schon so weit gekommen und sah keinen Gewinn in einem Rückzug – Schwierigkeiten lagen in jeder Richtung, die ich wählte.
»Ich möchte diese Wahrheit hören.«
» Je regrette, Madame, aber das wird nicht leicht für Euch sein.«
»Sprecht.«
»Nun gut. Meine Mutter war der Ansicht, dass der Bauch Eures Sohnes nicht vom Hauer eines Keilers, sondern von einem Messer geöffnet wurde. Der Täter, sagte sie später, sei schlau genug gewesen, die Wunde so aussehen zu lassen, als stammte sie von einem Tier, indem er sie fransig machte und Dreck hineinschmierte. Doch dann hatte er sich offensichtlich eines Besseren besonnen und Michel beerdigt. Hätte allerdings ein anderer ihn gefunden, hätte der wohl übersehen, was ihr auffiel.«
Ich schwieg und starrte meine gefalteten Hände an, die in meinem Schoß lagen und das mouchoir meiner Mutter mit verzweifelter Heftigkeit umklammert hielten. Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass ich es aus dem Ärmel gezogen hatte. Aber hier war es, zerdrückt zu einem faltigen Knäuel – das Opfer all meiner aufgestauten Wut.
Meine Gedanken, die eigentlich bei dem sein sollten, was Guillaume Karle mir eben enthüllt hatte, wanderten stattdessen zu Madame Catherine und ihrem Vater. Angesichts ihrer unehelichen Geburt war es ein fast zu heikles Thema, um ihren Sohn danach zu fragen, aber etwas in ihrer Vergangenheit hatte sie davon abgehalten zu enthüllen, was sie über das Schicksal meines Sohnes wusste, und ich wollte nun den Grund erfahren, warum sie mir dieses Wissen vorenthalten hatte. Vor allem aber wollte ich diesen Mann nicht in ein noch tieferes Schweigen über dieses Thema treiben, indem ich ihn mit drängenden Bitten um weitere Enthüllungen in Verlegenheit brachte. Ich beschied mich schließlich mit einer Frage, die mir unverfänglich erschien. »Erinnert Ihr Euch noch gut an den Vater Eurer Mutter?«
»Aber ja, sehr gut«, erwiderte er. »Als wäre er mein eigener. Als ich geboren wurde, war mein eigener Vater bereits tot. Und Grandpère nahm sich meiner an, als ich von Maman getrennt wurde.«
»Vielleicht, Monsieur, beehrt Ihr mich mit einer Geschichte Eurer bemerkenswerten Familie.«
Er lächelte, antwortete aber ausweichend. »Das würde viel Zeit in Anspruch nehmen.« Dann deutete er zum Fenster, in dem das Licht des Tages bereits deutlich schwächer wurde. »Die Sonne geht unter, und Ihr müsst Nantes erreichen. Aber ich würde mich geehrt fühlen, wenn Ihr vor Eurem Aufbruch eine kleine Erfrischung von mir annehmt. Etwas Wein, ein wenig Käse und Brot. Ich habe auch einige schöne Äpfel, wenn Ihr wollt.«
Schnell schaute ich zu Frère Demien hinüber, der das Angebot mit einem Nicken annahm. »Wie freundlich von Euch, dass Ihr Euren Tisch mit uns teilt«, sagte ich. »Aber ich selbst habe im Augenblick keinen Appetit auf Nahrung.«
»Ah, Madame. Dann soll mir Eure Gesellschaft genügen.«
Als er von seinem Stuhl aufstand, wirkte er einen kurzen Augenblick ein wenig unsicher, vielleicht wegen der Steifheit, die bei Leuten ehrwürdigen Alters nach
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