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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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besänftigen. Mir leuchtete das ein, und so übernahm ich die Führung unseres Duos und lenkte mein Pferd durch den Eichenhain, in dem wir nach Eurem Sohn gesucht hatten. Der Zufall oder was auch immer wollte es, dass wir eine beträchtliche Menge Misteln in den Eichen entdeckten, die wir sammelten, bis unsere Packtaschen prall gefüllt waren. Wir freuten uns noch weiterhin über den gefundenen Schatz, als wir zu dem Bach am Grund des Abhangs kamen.
    Es hatte in diesem Jahr heftig und sehr früh geregnet, und der Bach war so angeschwollen und mächtig, wie ich ihn nur selten gesehen hatte. Schlick und Kies und Blätter zeigten am Ufer die Höhe an, bis zu der er gestiegen war. Zu dieser Zeit war das Wasser bereits wieder gesunken und floss nun etwa eine Elle unterhalb des Hochstandes. Als wir dies sahen, ritten wir mit großer Vorsicht am Ufer entlang, denn der Schlamm konnte an Stellen tückisch sein und so feucht, dass ein Pferd bis zu den Knöcheln darin versank, vielleicht sogar so tief, dass auch das kräftigste Tier seinen Fuß nicht mehr herausziehen konnte. So war es ganz natürlich, dass wir sehr auf die Steine und Äste achteten, die überall herumlagen, und unsere Pferde im Zaum hielten.
    Im Verlauf dieses behutsamen Ritts am schlammigen Ufer entlang stießen wir auf eine merkwürdige Ansammlung von Steinen, einen Haufen, der so von Menschen gemacht aussah, dass er unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnte.
    Wir banden unsere Pferde an einem niedrigen Baum an und gingen zum Wasserrand, doch fast augenblicklich versanken unsere Füße im Schlamm. Ich griff nach einem kräftigen Ast und konnte mich so herausziehen, und danach half ich meiner mère, wieder auf festeren Boden zu kommen. Doch weder sie noch ich stellten einen Fuß auf den Steinhaufen am Wasserrand, denn er war zweifellos ein Grab.
     
    »Madame«, hörte ich Guillaume sagen. Die Worte hingen in der Luft, klangen aber, als kämen sie aus dem Wasser des entfernten Bachs, an dessen Ufer sie die Überreste gefunden hatten. »Madame – soll ich aufhören?«
    Irgendwie gelang es mir, wieder an die Oberfläche zu kommen.
    »Nein«, sagte ich. Mein Kummer hatte mich so sehr im Griff, dass ich kaum sprechen konnte. »Um Gottes und aller Heiligen willen«, flüsterte ich, » nein. Erzählt mir alles.«
    Plötzlich schien das Alter, das bis dahin scheinbar so spurlos an ihm vorübergegangen war, sich mit großer Macht auf ihn zu legen, und ich sah vor mir einen alten Mann, der seit vielen Jahren eine große Last auf seiner Seele trug.
    Wir waren weiterhin vorsichtig, aber nachdem wir nun wieder sicheren Stand hatten, fingen wir an, die obersten Steine von dem Haufen zu entfernen. Bald kamen die Umrisse von Armen und Beinen und einem Leib und schließlich, am äußeren Rand, von einem Kopf zum Vorschein. Und an der Größe und Form erkannten wir, dass es ein junger Mann oder ein Knabe sein musste. Inzwischen hatten die größeren Steine Kieseln Platz gemacht; wer immer hier Euren Sohn zur Ruhe gebettet hatte, hatte ihn zuerst mit Sand und kleineren Steinen bedeckt und dann größere Brocken darüber geschichtet. Wir gingen sehr behutsam vor, um seine Ruhe nicht zu stören, und irgendwann sagte ich zu Mère: Lass uns nur das Gesicht freilegen, damit wir sehen, wer es ist.
    Sie war einverstanden, und so kratzten wir den zusammengebackenen Sand um den Kopf herum weg, bis unsere Finger auf Fleisch stießen. Es fühlte sich schwammig und fest zugleich an, und obwohl die Natur bereits ihren Lauf genommen hatte, war vom Gesicht noch genug vorhanden, so dass wir Michel erkennen konnten.
    Wir hielten einen Augenblick inne, und meine Mutter fing an zu beten – laut, was sie sehr selten tat. Sonst war sie immer sehr zurückgezogen in ihrer Andacht, sie vertraute darauf, dass Gott ihr schon zuhören würde, und hielt es deshalb für überflüssig, sich den Anschein von Frömmigkeit zu geben. Sie betete zu Gott und der Jungfrau für den Seelenfrieden Eures Sohnes. Und als sie ihre Gebete beendet hatte, saß sie einen Augenblick lang stumm da. Dann wandte sie sich mir zu und sagte, Gott habe ihr aufgetragen, dass der Knabe von seinen Sünden freigesprochen werden sollte und dass er, wenn dies getan sei, in den Himmel aufgenommen werde, wie er es dank der Unschuld seines Lebens verdient habe.
    Als ich einwandte, dies müsse von einem Priester getan werden, lachte sie. Ich habe den Schwarzen Tod erlebt, entgegnete sie, und in dieser Zeit war auch für viel Geld kein

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