Die Schreckenskammer
»Natürlich.«
» Oui « , sagte ich, » c’est moi. Einst habt Ihr mich Guillemette genannt.«
»Aber … ich hätte nicht gedacht, dass Ihr …« ein Leben im Dienst der Kirche ertragen könntet, ergänzte ich für mich. Merkwürdigerweise war diese Regung für mich wie ein Kompliment.
»Es ist kein Leben, das ich mir gänzlich selbst gewählt habe.« Ich krümmte und streckte die Finger, um die Taubheit zu vertreiben.
»Mein Mann starb an seinen Wunden nach Orléans.« Mehr brauchte ich nicht zu sagen.
Noch immer schniefend, schüttelte Madame le Barbier langsam den Kopf. »Nun, wenigstens seid Ihr versorgt.«
»Das bin ich«, sagte ich. »Und ich bin nicht so einsam, wie ich es in meinen letzten Tagen in Milords Diensten war. Alle, die ich dort kannte und liebte – zu der Zeit waren sie alle bereits verschwunden. Das Kloster ist ein angenehmer Ort, wo ich mich nützlich machen kann; ich bin eine Vertraute Seiner Eminenz, der sich in kleinen Dingen auf mich verlässt.«
»In der Tat. Das habe ich gestern Abend gesehen.«
Überrascht erfuhr ich nun, dass sie trotz ihres Kummers alles genau beobachtet hatte, aber da nun das Wiedererkennen ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte, erinnerte sie sich auch an andere Dinge.
»Ich erinnere mich an Ihren Sohn …«, sagte sie, »aber meiner Erinnerung nach war er doch älter.«
»Ihr denkt an meinen Erstgeborenen, Jean«, sagte ich ihr. »Er ist – war – älter als Michel. Er ist jetzt Priester. In Avignon.«
»Ein Priester?« Ihre Überraschung war unübersehbar. »Das war erlaubt?«
Undenkbar, hatte Etienne gesagt, als Jean das erste Mal den Wunsch äußerte, Priester zu werden. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du wirst Soldat werden, wie ich einer bin. Soll dein Bru der Michel in den Dienst Gottes treten, wie es ihm als Zweitgeborenem gebührt.
»Er hatte keine Begabung fürs Kriegshandwerk«, sagte ich, »und auch nicht die geringste Neigung dazu …«
Michel würde mit Freuden zum Schwert greifen. Ich flehe dich an, Etienne, zum Wohle unserer Söhne, lass Jean in den Geistlichenstand eintreten.
»Es war eine gewaltige Aufgabe, aber es gelang mir, meinen Gatten dazu zu bewegen, Michel anstelle unseres Erstgeborenen die Waffenkunst lernen zu lassen. Mit der Zeit erkannte er, dass diese Einteilung beiden sehr zupass kam. Michel hatte eben begonnen, sich an den Waffen zu üben, als er …«
So viele Jahre waren vergangen, und ich konnte es noch immer kaum sagen.
»Er … verschwand«, flüsterte ich.
Meine Stimme versagte mir den Dienst, und es war ein Trost, dass Madame sich meinem Schweigen anschloss. »Dann ist Jean also in Avignon …«, sagte sie nach einer Weile, »eine schöne Stadt, à bon temps, habe ich gehört. Aber so weit weg.«
»Ich war noch nie dort, obwohl Seine Eminenz in der Zeit meines Dienstes bei ihm viele Audienzen beim Heiligen Vater hatte. Er sagt, es ist wirklich ein angenehmer Ort, vor allem der Palast, in dem Seine Heiligkeit residiert. Jean fehlt mir schrecklich, aber er scheint glücklicher in seiner Arbeit zu sein – und nun werde ich ihn auch endlich besuchen dürfen, wenn Seine Eminenz in einigen Monaten nach Avignon reist.«
Ich sah echte Freude in ihrer Miene. »Wie wunderbar, dass Ihr eine solche Reise vor Euch habt. Der Weg wird zwar beschwerlich sein, aber …«
»Ich hatte nie Angst, mich aufzumachen in die Welt – im Gegenteil, ich habe es immer fast als Vergnügen betrachtet. Und was mich am Ende dieses Wegs erwartet, wird die Reise selbst als lächerliche Unbequemlichkeit erscheinen lassen.« Ich klopfte mir auf den Ärmel. »Er schreibt oft, und ich trage seine Briefe bei mir, bis ich sie auswendig kenne. Aber das ist nicht dasselbe, Madame, wie die Hand auszustrecken und seine Wange zu berühren.«
»Bitte«, sagte sie, »mein Taufname ist Agathe.« Nun kam wieder ein bitteres Lächeln. »Wir sind wahre Schwestern, n’est-ce pas? Da uns beide etwas so Starkes wie die Seelen unserer Söhne vereint, sollten wir doch sehr vertraut miteinander sein.«
Sogleich flossen wieder ihre Tränen. Ich legte den Arm um sie, bis sie aufhörte zu weinen.
»Nun denn, Agathe«, sagte ich zu ihr, »du musst mir alles erzählen, was du über die Umstände von Georges’ Verschwinden weißt.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ach, Mutter …«
»Guillemette«, korrigierte ich sie.
»Guillemette.« Sie versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine halbherzige Geste. »Es gibt Zeiten, da kann ich
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