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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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jammerten trotzdem. Im Augenblick war ich dankbar für die Windstille, denn sonst wäre, was hier auch sein mochte, davongeweht worden.
    Wir bogen in die zweite der drei Straßen ein. Von unserem Standpunkt aus konnte ich die oberen zwei Drittel des Wohnblocks sehen, den Nathan an diesem Morgen verlassen hatte, was bedeutete, dass jemand etwas gesehen haben konnte.
    Diese Straße war noch mehr eine Wohnstraße als die erste, die wir abgesucht hatten – Zäune, Hecken, breitere Bürgersteige. Wir teilten das Gelände auf und trennten uns. Ich leuchtete mit meiner Lampe in Büsche, schob mit der anderen Hand Äste beiseite und suchte Stellen ab, die normalerweise nur Eichhörnchen zu sehen bekommen. Mein Rücken schmerzte vom tiefen Bücken, aber ich ignorierte den Schmerz und konzentrierte mich. Ein oder zwei Mal sah ich das rote Funkeln von Augen, die meinen Lichtstrahl reflektierten. Leises Rascheln war zu hören, wenn diverse Vierbeiner in Deckung huschten. Ein Junikäfer surrte und ritzte das dünne Furnier der Ruhe, die ich mir bis jetzt hatte bewahren können. Ich schob die vertrockneten Palmenhülsen beiseite, die unweigerlich unters Strauchwerk geweht werden, allerdings vorsichtig, denn sie haben rasiermesserscharfe Kanten. Sie raschelten wie Erdnussschalen.
    Alles verstummte, als einer der Streifenbeamten rief: »Ich habe etwas.«

3
    Viele Jahre waren seit dem schlimmen Tag vergangen, als Michel in der Blüte seiner jugendlichen Kraft und Schönheit einfach verschwand, und mir war es nur gelungen – durch beinahe beständige Geißelung meiner Seele –, den Schmerz etwas zu dämpfen. Die Pein, ein Kind zu verlieren, vergisst man nie; man kann nur hoffen, dass die Erinnerung mit der Zeit schwächer wird. Und genau so soll es auch sein – die Seele eines verlorenen Kindes sollte immer in den Herzen derer bleiben, die es liebten, damit sie am Leben bleibt. Ich habe mich oft gefragt, warum Gott gerade mir diese Aufgabe übertrug, warum das Wesen des Jungen, der einst Michel la Drappière war, mir zur Bewahrung übergeben wurde. Wie soll man die süße Unschuld, die liebenswerte Neugier, die wachsende Tiefe seines Charakters bewahren? Ich habe nicht einmal ein Porträt von ihm, bis auf jenes, das täglich durch meinen wachenden Verstand zu meinem träumenden Herzen wandert. Er ist groß und schlank, aber seine Gliedmaßen versprechen künftige Kraft. Seine Augen haben die Farbe eines klaren Himmels im April. Wie fängt man seine Herzlichkeit ein, die Zärtlichkeit seiner Umarmung, den Humor seiner brechenden Stimme? Oft beschleicht mich das Gefühl, dass ich dazu einfach nicht stark genug bin.
    Madame le Barbier verschlug es zunächst den Atem, als ich es ihr erzählte, dann stieß sie bitterste Verwünschungen aus; sie umklammerte meine Hand so fest, dass ich um die Knochen meiner Finger fürchtete. Die zerlumpte Frau umarmte mich mit überraschender Kraft, und Tränen unaussprechlichen Kummers rannen ihr über die Wangen, um meinetwillen, um ihretwillen, um unserer verlorenen Söhne und um all der quälenden Tage willen, die ich erlebt hatte und sie noch erleben würde. Eine Schwäche überkam sie, dass ich schon befürchtete, sie würde zusammenbrechen. Ich führte sie ins Haus und zu einer Bank mit Kissen, wo sie an meine Schulter sank und sich ganz dem Schluchzen hingab. Als ihre Kraft zu weinen erschöpft war, legte sie den Kopf in meinen Schoß und bebte unter abgehackten Atemzügen, bis sie schließlich eindöste.
    Ich wusste, was andere nicht wissen konnten – dass es nämlich keine Worte gab, um ihren Schmerz zu mildern, keine Mitleidsbezeugungen, um das Leid zu lindern, das im Augenblick des Verlustes seinen Anfang nahm und nie, so mein Lebensweg mir Wahres enthüllt hatte, ein richtiges Ende finden würde. Was Madame jetzt brauchte, war jemand, der stumm neben ihr saß, während sie sich bemühte, die Seele ihres Kummers zu entleeren, was ihr für sehr lange Zeit vergeblich erscheinen mochte. Eine ähnliche Freundlichkeit wurde auch mir gewährt, ironischerweise durch eine Braut Christi, die den Schleier nahm, als ihr Gatte starb – im Gegensatz zu mir allerdings freiwillig. Sie war bekannt für ihre Großzügigkeit, und die bewies sie mir mit dem Geschenk kritikloser Zeit; als die anderen Damen des Schlosses keine Geduld mehr hatten für mein Weinen und meine Klagen, als sogar Etiennes Langmut spröde wurde, war sie diejenige, in deren Gegenwart ich immer Trost fand. Sie zwang mich, wieder in

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