Die Schreckenskammer
nicht sogar übertroffen. Noch in letzter Minute hatte er aufs Neue versucht, mir mein Vorhaben auszureden, wobei er die Gefahr als Grund nannte. Doch Bräuten Christi wird selten Gewalt angetan – warum die unsterbliche Seele riskieren, wenn so viele gewöhnliche Jungfrauen zu haben sind, die noch dazu alle jünger sind? Die Mütter von Königen waren Freiwild – Yolande d’Aragon selbst musste die Schändung durch Milord Gilles durchleiden, als der in einem seiner umnachteten Augenblicke beschloss, sein eigener »Söldner« zu sein und sie auf einer Reise zu entehren – aber eine Nonne, zumindest eine Äbtissin, durfte wohl sicher sein.
In der Pfarrei von Bourgneuf, nicht weit von Machecoul, gibt es ein verhältnismäßig komfortables Kloster; während einer Reise in Milord de Rais’ Gefolge hatte ich dort vor vielen Jahren schon einmal übernachtet. Obwohl es kein hoch aufragendes Gebäude war, sah ich es schon aus der Entfernung, als die Sonne sich langsam auf die Baumwipfel senkte. Der Gedanke an eine Zuflucht war verlockend, und ich trieb mein Tier mit geflüsterten Versprechungen an, die es – auf welche Weise auch immer – zu verstehen schien.
Die überraschend junge Mutter Oberin begrüßte mich im Klosterhof, als die Sonne eben hinter den Außenmauern verschwand. Nachdem sie mein Empfehlungsschreiben gelesen hatte, stellte sie sich respektvoll als Schwester Claire vor, obwohl alle anderen sie wahrscheinlich Mutter nennen mussten. Ich erklärte ihr in wenigen Worten mein Vorhaben, worauf sich in ihrem Gesicht echte Neugier zeigte, hinter der ich mehr vermutete als nur ein beiläufiges Interesse.
Hatte auch sie Geschichten gehört? Ich hoffte auf ein wirklich erhellendes Gespräch.
Wie es von ihr erwartet wurde, lud sie mich ein, über Nacht zu bleiben. Als ich das Angebot annahm, führte sie mich persönlich in den Hauptraum der Abtei, einen Saal mit gewölbter Decke und hohen Fenstern. Dort hielt sich außer uns beiden niemand auf, denn alle anderen erledigten im schwindenden Licht die letzten Pflichten des Tages. Dann geleitete sie mich in eine kleine, ordentliche Kammer, etwa so groß wie meine eigene in Nantes, und brachte mich dort unter.
Ich dankte ihr und sagte: »Die Unterkunft ist sehr gut.«
»Wir haben nicht die Annehmlichkeiten, die Ihr in Nantes habt, aber wir sind recht zufrieden. Wollt Ihr nun etwas zu Euch nehmen?«
»Wenn noch etwas übrig ist, gerne. Aber es ist nicht nötig, eigens für mich etwas zuzubereiten.«
»Unsinn«, sagte sie. »Ein Reisender wird hier immer Stärkung finden.«
Ein himmlisches Mahl aus dicker Rübensuppe und Brot wurde mir von einer jungen Novizin aufgetragen, die kein Wort sprach, während sie die Gaben vor mir ausbreitete. Die Äbtissin wachte über jede Bewegung des Mädchens mit den Augen einer Adlermutter, und ich war mir sicher, dass jeder Fehler in ihrem Tischdienst zu einem späteren Zeitpunkt kritisch erwähnt werden würde- natürlich behutsam. Auf das Mahl folgte ein Glas Hippokras, der leider nicht von der Qualität war, wie ich sie von der Tafel des Bischofs gewohnt war. Ich genoss den Würzwein trotzdem und war dankbar für die Entspannung, die seine berauschende Wirkung mir gewährte. Als unser Gespräch sich den Einzelheiten meines Vorhabens zuwandte, wurde Schwester Claire sehr aufmerksam und sagte kein Wort, während ich von Madame le Barbiers Besuch berichtete.
»Warum sollte das eine Angelegenheit für den Bischof sein?«, fragte mich die Äbtissin. »Kinder verschwinden eben manchmal. Vor allem in Zeiten wie diesen.«
»Genau dies sagte er selbst auch. Er riet ihr, zum Magistrat zu gehen.«
»Ein weiser Rat, vielleicht …«
»Sie war bereits dort gewesen«, entgegnete ich, »hatte aber keine Hilfe erhalten. Der Bischof war so gnädig, mir Nachforschungen in der Umgebung zu gestatten, und wenn ich von überall her Berichte gesammelt habe, werde ich ihm meine Ergebnisse vorlegen.«
Sie bekreuzigte sich. »Eine Aufgabe, wie es kaum eine schrecklichere gibt.«
»In der Tat«, sagte ich, »entsetzlich. Aber das Reisen macht mir nichts aus.« Ich nippte nur langsam an dem Würzwein, damit er meine Zunge nicht zu sehr löste. »Hoffentlich wird es nicht zu lange dauern, da ich Pflichten habe, deren Umfang Ihr wohl nur zu gut kennt. Ich hoffe, diese Nachforschungen binnen weniger Tage abzuschließen – und ich fürchte, ich werde es auch, wenn man bedenkt, dass ich heute an jedem Brunnen eine Geschichte über das eine oder das
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