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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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andere verschwundene Kind gehört habe.«
    Darauf hob die Äbtissin eine Augenbraue. »Wäre mir diese Aufgabe übertragen, wäre es mir lieber, wenn ich keinen Erfolg hätte.«
    Der Wein machte mich kecker, als ich es hätte sein sollen, denn ich beugte mich vor und sagte mit großer Ernsthaftigkeit: »Ich habe diese Aufgabe aus freien Stücken übernommen, musste fast darum betteln. Von Seiner Eminenz erfuhr ich nur wenig Unterstützung.«
    »Es ist die Aufgabe des Magistrats«, sagte sie. »Dennoch fragt man sich, warum der Bischof es nicht für angebracht hielt, ihn unter Druck zu setzen. Wenn das, was Ihr gehört habt, der Wahrheit entspricht, und wirklich Unschuldige verschwinden … nun, dann muss doch wohl baldigst etwas unternommen werden.«
    Schwesterliche Übereinstimmung ist etwas Wunderbares. »Man fragt sich wirklich«, pflichtete ich ihr bei, »und zwar mit Nachdruck.
    In Saint-Jean-d’Angély erzählt man sich, dass in Machecoul kleine Kinder gegessen werden, und diese Geschichten werden unaufgefordert weitererzählt von Reisenden bei zufälligen Begegnungen – sie werden erzählt von völlig Fremden als Warnung, und dann tauchen sie in Briefen aus Avignon wieder auf. Im einfachen Volk findet dieses Phänomen große Beachtung, doch wir, die wir auf den Stufen des Himmels tanzen, scheinen es recht unbeschwert übersehen zu haben.«
    »Vielleicht hätte es Folgen, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Folgen, die jetzt noch nicht zu erkennen sind.«
    Wieder hatte sie treffsicher einen Gedanken ausgesprochen, den ich noch gar nicht in Worte gefasst hatte.
    »Es wäre mir eine Ehre, in Eurem Namen Nachforschungen unter der ortsansässigen Bevölkerung anzustellen«, sagte sie. »Das würde es Euch ersparen, erst ihr Vertrauen gewinnen zu müssen. Die Leute hier in der Gegend bleiben eher unter sich und trauen Fremden nicht.«
    Ein großzügiges Angebot, das ich gerne annahm. »Wenn es nicht zu große Umstände macht, könnte ich dann jeden, der Nachrichten über verschwundene Kinder hat, gleich hier in der Abtei empfangen?«
    »Das erscheint mir ebenso sinnvoll wie angemessen.« Sie erhob sich anmutig. »Und jetzt müsst Ihr sehr müde sein …«
    Das war ich wirklich. Schwester Claire fasste mich am Arm und führte mich zu meiner Kammer, wo sie mir eine gute Nacht wünschte. Auf der schmalen Pritsche lag frisches Stroh und darauf eine gut gefederte Unterlage, und mir wurde plötzlich bewusst, wie erschöpft vom holpernden Tagesritt ich tatsächlich war. Auch wenn mein Hintern ausreichend gepolstert war, so war er doch dem Auf und Ab des Eselsganges nicht gewachsen. Am Morgen würde ich steif sein, zumindest eine Weile.
    An einer Wand stand ein Stuhl, und darüber befand sich der Schlitz eines Fensters, durch den das Licht des fast vollen Mondes hereinströmte. Ich gab mir Mühe, es zu meiden, als ich zum Stuhl ging, um mein staubiges Schuhwerk abzustreifen, damit es mir nicht den Verstand raubte wie so vielen anderen. Dann nahm ich Schleier und Kutte ab und stand nur in meinem weißen Leinenhemd da. Über dem Kopfende des Bettes hing ein silbernes Kreuz, das mich daran erinnerte, wo ich war, doch ich brauchte das Kreuz nicht, um mich daran zu erinnern, warum ich hier war.
    Lieber Gott, betete ich – beinahe ernsthaft –, lass dies alles nur Hirngespinste und Gerüchte sein …
    Ich legte mich aufs Bett, deckte mich mit der Kutte zu und fiel in einen tiefen Schlaf. Irgendwann störte ein Traum von Madame Maries aufgehängtem Hund meinen Schlaf, doch in diesem Traum war er Zerberus, der Wächter des Hades, der mich mit wütendem Jaulen zwang, den Fluss Styx zu überqueren und ihm zu folgen. Und ich begriff, dass ich keine andere Wahl hatte.
     
    Das Frühstück war mehr als reichlich – warme Milch, knuspriges Brot, Äpfel und gülden-grüne Birnen, die man extra wegen meines Besuches aus dem Sandkeller geholt hatte. Dafür, dass wir beide uns nur sehr kurze Zeit kannten, war die Unterhaltung erstaunlich offen und freundlich. Ich schrieb das zum Teil der Wirkung einer wunderbaren Spezialität zu, welche die Äbtissin mir anbot, eine Kanne eines duftenden und köstlichen Gebräus, das entsteht, wenn man die Blätter gewisser Pflanzen aus dem Orient in kochendem Wasser ziehen lässt. Sie hatte es mit Honig gesüßt, um sein natürliches Aroma zu mildern, das sie etwas bitter fand. Ich fand es sehr angenehm und genoss das kleine Gefühl der Belebung, das es mir bot.
    »Was für ein seltener und weltlicher

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