Die Schreckenskammer
Kind etwas zu tun oder es zu verstecken. Bei gewissen Zuständen kann es sogar sein, dass sie gar nicht weiß, was sie tut.«
Ich dachte über das eben Gesagte nach, während er sein Sandwich bearbeitete. »Wissen Sie, für all das andere Zeug sieht sie zu normal aus. Ich weiß, es ist oft schwer festzustellen, aber man würde doch denken, dass es irgendein sichtbares Zeichen gibt, wenn jemand bekloppt ist. Bei der Münchhausen-Sache sieht man es vielleicht nicht, außer man achtet speziell darauf, aber bei all den anderen Sachen würde man doch meinen, dass man es an ihrem Verhalten merkt.«
»Nicht unbedingt. Einige Täter, die Verbrechen an Kindern verüben, schaffen es ziemlich gut, völlig normal zu wirken. Viele Pädophile sehen aus wie der Typ von nebenan.«
Das war nur zu wahr.
»Und vergessen Sie nicht, Sie sehen sie nicht unter ›normalen‹ Umständen. Ihr Sohn ist verschwunden. Das ist eine Stress-Situation, auch für jemanden, der mitten in einer psychotischen Episode steckt, und sogar dann, wenn sie hinter seinem Verschwinden steckt.«
»Ich schätze, das stimmt.«
»Könnte es sein, dass der Ex dahintersteckt?«
»Ich habe ihn kurz überprüft, und er sieht sauber aus.«
»Ich würde ihn unverzüglich befragen. Er dürfte Ihnen eine Menge Hintergrundinformationen über sie geben können, falls er bereit ist zu reden. Und ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu sagen, dass er Ihnen ein Gefühl dafür vermitteln kann, was passiert ist, als das erste Kind starb. Mit ein wenig Glück können Sie auch herausfinden, ob er denkt, dass sie es getan hat oder nicht. Ist er schon hier?«
»Unterwegs. Er müsste in ein paar Stunden eintreffen.«
»Gut. Wenn Sie mit ihm reden, können Sie sein Gesicht sehen.«
Nicht, dass ich es je wieder wollte – Daniel Leeds hatte eine Warze auf der Wange, die so groß war, dass man eine Pflanzenampel daran hätte aufhängen können. Es fiel mir ziemlich schwer, sie nicht anzustarren, als wir uns unterhielten, was wir sehr kurz nach seiner Ankunft in Los Angeles taten.
Nachdem ich seine Frau gesehen hatte, die klein und kompakt war, konnte ich mir die beiden als Paar kaum vorstellen. Er watschelte in den Empfangsbereich der Abteilung wie ein schwangerer Eisbär, sein Gesicht war teigig weiß, und Speckrollen hingen über seinen riesigen Gürtel. Der Hals quoll ihm über den Kragen, wenn er sich umdrehte.
Aber er war wortgewandt, intelligent, freundlich und ganz offensichtlich bestürzt über das Verschwinden seines Sohnes. Bevor wir zum schwierigen Teil kamen, musste ich ihn erst einmal beruhigen und eine Art von Beziehung aufbauen. Deshalb fing ich nach ein paar gekünstelten Höflichkeiten und einem Ausdruck des Bedauerns wegen seiner Probleme mit einer Frage an, die normalerweise ziemlich unverfänglich ist.
»Was arbeiten Sie?«
»Ich bin Raketenwissenschaftler.«
Ich musste mich fast zwingen, nicht zu lachen. So sah er nun wirklich nicht aus. »Wirklich?«, fragte ich dümmlich.
»Ja. Wirklich. Meine offizielle Tätigkeitsbeschreibung lautet Raketenantriebsingenieur. Die Firma, für die ich arbeite, entwickelt Antriebssysteme für High-Tech-Waffen und Flugzeuge. Das Militär ist unser größter Kunde.«
»Dann dürften Sie in letzter Zeit ziemlich beschäftigt sein.«
»Bin ich.«
»Haben Sie auch andere Kunden für solche Sachen?«
»Leider ja.«
»Nun ja, das muss eine sehr interessante Arbeit sein, und ich möchte wetten …«
»Eigentlich darf ich über unsere Arbeit nicht sprechen, Detective. Es ist eine Frage der Sicherheit, und unsere Regierungskontrakte verbieten mir, irgendetwas über meine Arbeit zu erzählen.«
So viel zu den unverfänglichen Fragen. Da es offensichtlich wenig Sinn hatte, die Beziehungsbemühungen zu vertiefen, kam ich zur Sache. In einem Telefongespräch hatte er mir bereits berichtet, dass er zu der Zeit von Nathans Entführung in Arizona am Arbeiten war. Bei den Sicherheitschecks, die sein Arbeitgeber aller Wahrscheinlichkeit nach hatte, war es schon fast eine Beleidigung, wenn ich versuchte, mir seine Angaben bestätigen zu lassen. Ich würde es natürlich tun, aber es hatte keine Priorität.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Verhältnis zu Nathan, Mr. Leeds.«
Er rutschte ein wenig hin und her. Ich konnte nicht sagen, ob der Stuhl für seine Masse zu klein oder ob die Frage ihm unangenehm war. »Ich sehe ihn natürlich nicht oft genug. Ich versuche, eine funktionierende Beziehung zu ihm aufrechtzuerhalten, ein
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