Die Schreckenskammer
Sympathie. Alle sagten, arme Frau, hat acht Kinder wegen plötzlichen Kindstods verloren. Schließlich schöpfte jemand Verdacht. Wie sich zeigte, genoss sie die Aufmerksamkeit, die sie erhielt, wenn einem von ihnen was passierte.«
»Ich frage mich, ob das auch hier der Fall ist. Der Junge ist viel zu alt für plötzlichen Kindstod, aber ungefähr im richtigen Alter, um vom schwarzen Mann verschleppt zu werden. Aber die Mutter hält sich sehr bedeckt. Sie kreischt keinem Reporter was vor oder hämmert an die Tür des Bürgermeisters. Es sieht eigentlich nicht so aus, als würde sie Aufmerksamkeit suchen.«
»Na ja, vielleicht dachte sie sich, dass die Sache schon an die große Glocke gehängt würde, wenn es erst einmal zu spät wäre.«
»In dem Fall würde sie Nathan wieder auftauchen lassen und uns irgendeine lahme Ausrede auftischen. Und ihm drohen, falls er nicht mitspielt. Man kann so ziemlich jedes Kind zum Schweigen bringen.«
»Falls er wieder auftaucht, möchte ich, dass Spence mit ihm redet.«
»Ich auch.«
Als ich zu meinem Schreibtisch zurückkehrte, um meine Handtasche und meine Waffe zu holen, blinkte mein Anrufbeantworter. Es war eine Nachricht von meiner Tochter Frannie. Sie hatte vergessen, ihre Steppschuhe zu ihrem Vater mitzunehmen und brauchte sie für ihre Tanzstunde an diesem Nachmittag. Ob ich sie bis drei in die Tanzschule bringen könnte?
Der beratende Psychologe unserer Abteilung ist wie gesagt dieser große knochige Finne namens Errol Erkinnen. Er sah gut aus: markantes Gesicht, sehr kantig und typisch nordisch. Seine Mutter war ein großer Fan von Errol Flynn, daher der alliterative Name. Wir alle nennen ihn sowieso nur Doc. Er ist ein guter Zuhörer, und ich brauchte ihm die Fakten nur einmal aufzulisten, damit er die Dimensionen des Falls und meine Skrupel begriff. Beim Anblick seines Büros würde man es gar nicht glauben – es war der reinste Dschungel. Überall lagen Papiere und Zeitschriften verstreut, es gab keine freien Oberflächen. Eine Reihe Pappkartons, alle randvoll mit Akten, stapelten sich an einer Wand. Bücherregale, voll gestopft bis zur Decke. Aber er hatte nie Probleme, Papiere zu liefern, wenn wir sie von ihm brauchten. Ich denke, er war mental organisiert auf eine Art, die die meisten von uns gar nicht begreifen. Bei intelligenten Menschen soll so was vorkommen.
Er kam direkt zur Sache. »Okay. Erstens, wenn Sie eine Mutter haben, die ihr eigenes Kind verschwinden lässt, dann liegt wahrscheinlich eine Geisteskrankheit vor. Depressionen, Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom vielleicht, es kann aber auch etwas sein, das nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Erinnern Sie sich an die Frau aus Texas, die ihre fünf Kinder in der Badewanne ertränkte, eins nach dem anderen?«
»Na ja, aber die war doch offensichtlich verrückt.«
»Ja, und jeder merkte ihr das an, und angeblich war sie ja auch in Behandlung. Aber dieses sichtbare Zutagetreten machte sie zur Ausnahme. Die meisten verstecken es. Daran müssen Sie denken, wenn Sie sie befragen.«
»Soll das heißen, dass ich sehr zärtlich sein soll?«
Er lächelte. »Nur, wenn Sie diese Neigung haben.«
Das ärgerte mich. »Kommen Sie, Doc. Sie wissen, was ich meine.«
»Ja. Tut mir Leid. Ich wollte damit sagen, Sie müssen daran denken, dass die Fragen, die Sie stellen, und wie Sie sie stellen, bei ihr als Katalysator wirken könnten.«
»Ich habe ein wenig über diese Münchhausen-Sache gelesen, aber sehr viel weiß ich nicht darüber.«
»Es ist ein ziemlich seltenes Syndrom, auch wenn es zurzeit ziemlich oft in den Zeitungen steht. Kurz gesagt, ein Elternteil oder ein Fürsorgeberechtigter – es ist fast immer eine Frau, meistens die Mutter – fixiert sich auf die Aufmerksamkeit, die sie erhält, wenn sie ein krankes Kind hat, deshalb macht sie das Kind absichtlich krank, damit sie diese Aufmerksamkeit erhält. Haben Sie den Film Der sechste Sinn gesehen?«
»Ja.«
»Das kleine Mädchen, das von der Mutter vergiftet wurde und dem Jungen als Geist erschien, um ihn dazu zu bringen, seine Geschichte zu erzählen, damit die kleine Schwester gerettet werden konnte: Das war ein klassischer Fall – zwar fiktiv, aber gut dargestellt – einer Mutter mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Aber in unserem Fall könnten auch andere Diagnosen zutreffen. Die Mutter könnte psychotisch oder depressiv oder wahnhaft sein, sie könnte an jedem Krankheitsbild leiden, das sie dazu bringen könnte, ihrem
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