Die Schreckenskammer
finde.«
»Das wirst du, Lany. Wie du schon gesagt hast, hast du dieses Bauchgefühl. Ich sehe es dir an. Aber bis dahin musst du diese Sache in Ruhe lassen. Es gibt keine Beweise, die die Aussage des Augenzeugen widerlegen, außer er gibt seine Schwägerin preis. Wir haben also nichts.«
Leider hatte er Recht, und ich wusste es. Demzufolge hatte ich jetzt einen neuen Fall, einen verwirrenden, schwierigen Fall, mit einer Beweislage, die nur aus heißer Luft bestand.
9
Ich vergeudete einen ganzen Tag, indem ich mich in dem alten Kummer über die schrecklichen Ereignisse suhlte, die mich vor so vielen Jahren heimgesucht hatten. Zu meiner Verteidigung muss ich jedoch sagen, dass als Folge meiner neuen Entdeckungen der alte Schmerz über den Verlust meines Sohnes jetzt wieder wie frisch für mich wirkte. Vielleicht sollte das nach zwei Jahrzehnten nicht so sein, nichtsdestoweniger verhielt es sich so.
Die Sonne stand hoch über der Burg, dem Hof und der gesamten Umgebung, doch ich konnte ihre Wärme nicht spüren. Die Blumen im Hofgarten zeigten ihre Freude über das Wetter, indem sie die Luft mit mächtigen Düften erfüllten. Ich saß zwischen einer Pfingstrose und einem Rosenstrauch auf einer Bank mit einem Sockel aus marmornen Engeln, deren dralle kleine Arme sich emporstreckten, um die hölzerne Sitzfläche zu stützen, auf der die Erschöpften Rast finden sollten, auch wenn die harten Bretter kaum Bequemlichkeit boten. Einige weiche gelbe Rosenblüten hatten sich eben geöffnet, als hätten ihre welkenden orientalischen Cousins ihnen den Auftrag gegeben, zu erblühen und die Aufgabe zu übernehmen, Insekten und Spaziergänger zu verführen. In meinem Schoß ruhte ein alter, aber noch brauchbarer Chorrock, ebenjener, dessentwegen ich angeblich nach Machecoul gereist war, um die Materialien zu kaufen, die ich dann doch nicht besorgt hatte. Gott sei’s gelobt, ich fand die benötigten Garne ganz unten in meinem Korb und war deshalb nicht daran gehindert, die Ausbesserungen durchzuführen. Doch im Augenblick war es mir zu viel Mühe, meine eigenen Stiche unter jene zu mengen, die meine Vorgängerin ziemlich nachlässig angebracht hatte.
Alles, woran ich denken konnte an diesem Tag, da ich eigentlich von einem süßen Atemzug zum nächsten hätte leben und die Arbeit genießen sollen (es hätte ja auch das verachtete Verbuchen der Ausgaben sein können), alles, was mein Herz und meinen Verstand erfüllte, war die Vergangenheit, vor allem mein Sohn Michel und was aus ihm hätte werden können, wäre er mir nicht entrissen worden. Wieder war ein Brief von seinem Bruder aus Avignon eingetroffen, das hatte zumindest ein Bote an diesem Tag gesagt; doch meine Verzweiflung war so tief, dass der Gedanke, ihn zu lesen, mich kaum beflügelte.
Briefe von Michel wären ganz anders gewesen als die, welche ich von seinem Bruder erhielt, vor allem in der Regelmäßigkeit, mit der sie eintrafen. Michels wären bestenfalls gelegentlich gekommen, ganz im Gegensatz zu denen von Jean, die vorhersehbarer waren als meine einstigen Regelblutungen. Ich habe oft darüber nachgedacht, welchen Inhalt die Briefe meines jüngeren Sohnes gehabt haben könnten. Zuvörderst hätte er sie wohl mit der Freude und dem trockenen Humor gefüllt, die sein alltägliches Verhalten auszeichneten. Es hätte viele gute Nachrichten gegeben und nur sehr wenige schlechte, ein offenkundiges Missverhältnis, doch mit der guten Absicht fabriziert, meinen Kummer über einen Sohn zu lindern, der seinen Lebensunterhalt als Krieger verdiente. Alle Mütter von Söhnen, die für Sattel und Schwert geboren sind, haben diese Sorgen, doch bei meinen hatte es sich selbstredend um die einzigen gehandelt, die von Bedeutung waren. Seine rußigen Pergamente wären zerfleddert von irgendeinem Schlachtfeld oder Außenposten eingetroffen, wohin sein Lehnsherr, wer immer das hätte sein mögen, ihn geschickt hatte.
Hätte er Gilles de Rais, dem Spielkameraden seiner Kindheit, gedient? Vielleicht, aber ich glaube es eher nicht. Ich hatte es immer für möglich erachtet, dass ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten letztendlich eine Trennung der Wege erzwingen könnten- Michel war so von Herzen gut, und Milord Gilles schien seinem eigenen Wert nicht zu trauen, nachdem sein Großvater, ein Untier von einem Mann, ihn aus ihm herausgeprügelt hatte.
Kurz vor Michels Verschwinden fiel mir auf, dass Milord oft in Gedanken verloren schien. In dieser Zeit fing er auch an, so viel
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