Die Schreckenskammer
ein gewisses Maß an Selbstbestimmung gestatten. Michel war nicht geschaffen für den Priesterrock, und Jean wäre sicherlich in seiner ersten Schlacht gefallen, hätte er das Schwert ergriffen. Sollte Michel wirklich tot sein, und gibt es so etwas wie einen angemessenen Abgang, dann würde ich mir wünschen, er hätte die Möglichkeit gehabt, einen Kriegertod zu sterben, denn das wäre für ihn angemessen gewesen.
Mitten in diesen düsteren Gedanken hörte ich, wie mein Name gerufen wurde, oder genauer, mein Titel. Mère sagte furchtsam ein junger Priester, den ich in der Abtei bereits gesehen hatte, aber nicht mit Namen kannte. Er erschreckte mich so, dass mein Stickgarn zu Boden fiel. Der junge Mann kroch fast zu Kreuze in seiner Entschuldigung und schwor, er hätte mich nie gestört, wenn es sich nicht um einen Ruf zu Seiner Eminenz handelte. Ich brauchte eine Weile, um meine Würde wiederzuerlangen, nachdem ich die Garne aufgesammelt hatte. Obwohl ganz offensichtlich verlegen, wartete er geduldig. Mir wäre lieber gewesen, er hätte mich alleine gelassen- den Weg zu Jean de Malestroit würde ich so einfach finden, als hätte er ihn mir mit Brotkrumen vorgezeichnet.
Was würde er heute von mir wollen? Die Stunde gab mir zu denken (vor dem Mittag, eine Zeit, da er normalerweise mit Staatsdingen beschäftigt war), wie auch der Ausdruck auf seinem Gesicht, als ich seine geheiligte Höhle betrat. Zuerst gab Jean de Malestroit mir den Brief, der aus Avignon gekommen war. Ich nickte zum Dank und ließ das Gefühl des Pergaments auf meine Fingerspitzen wirken, doch anstatt sofort davonzuhuschen, um das Siegel zu erbrechen und die Worte zu verschlingen, steckte ich ihn in meinen Ärmel und wartete, auf dass der Bischof über die Angelegenheit sprach, die ihn veranlasst hatte, mich so mitten am Tag zu sich zu rufen. Beim Eintreten sah ich, dass er erregt war; er ging in seiner Kammer auf und ab, als könne er seine Gedanken nicht ordnen.
»Eminenz, wie Ihr es geschafft habt, ein Staatsmann zu werden, verstehe ich nicht.«
Er setzte sich unvermittelt auf seinen hochlehnigen Stuhl und atmete tief, um sich zu beruhigen. »Ach, Guillemette, manchmal verstehe ich es selbst nicht. Der Diplomatenhut passt mir viel weniger als die Mitra.« Er lächelte versonnen und zuckte die Achseln.
»Doch hat noch kein Mann je zwei Hüte mit Behagen und Würde getragen. Dazu bräuchte man zwei Köpfe. Oft bin ich hin und her gerissen, entweder Gott oder Herzog Jean zu enttäuschen, von denen keiner sich besonders gerne enttäuschen lässt.«
Dabei hatte ich ihn die Hüte mit unheimlicher Behändigkeit wechseln sehen. Es hätte mich nicht überrascht zu entdecken, dass Jean de Malestroit einen zweiten Kopf für seinen anderen Hut hatte, versteckt irgendwo, wo niemand danach suchen würde. Ich stellte mir vor, in einem Schrank über das grässliche Ding zu stolpern, einem Schrank mit knarrenden Angeln. Ich würde die Tür öffnen, weil ich einen Docht oder ein Garn oder einen Wetzstein suchte, und dieser Kopf würde mich unter seiner durchgehenden Augenbraue heraus anstarren und mich schnell daran erinnern, dass ich mich um das lästige Geräusch der Angeln kümmern musste.
Oder vielleicht könnte Schwester Elene sich darum kümmern … würde der Kopf mit hinterhältigem Grinsen sagen.
Der gegenwärtige Hutträger riss mich aus meinem Sinnieren mit den Worten: »Ich habe Euch etwas zu sagen.«
Nach einer Pause erwiderte ich: »Ihr klingt, als würdet Ihr meinen, dass es mich nicht erfreut.«
»Ich kann Eure Reaktion nicht voraussehen – nur dass Ihr mit Sicherheit eine zeigen werdet.«
»Sprecht«, sagte ich. »Spannt mich nicht auf die Folter.«
»Nun gut. Es ist Euch nicht gestattet, mit Euren Nachforschungen über das Verschwinden von Kindern fortzufahren.«
Die vorausgesagte Reaktion nahm die Form eines unglücklichen Knotens in meinem Bauch an. Mein Esel würde im Stall bleiben, ich würde nicht wieder ausreiten, sondern im Kloster ausharren und zu meinen Pflichten zurückkehren, anstatt dass Schwester Elene sie übernahm, was für mich, wie ich gern zugebe, eine kleine Erleichterung war. Dennoch war ich sehr enttäuscht. Meine Stimme klang etwas schrill, als ich protestierte. »Eminenz, Ihr habt mir das Privileg mit gutem Grund gewährt. Es bekümmert mich sehr, dass Ihr Eure Meinung so schnell ändert.«
Er erhob sich und lächelte breit. »Es gibt eine sehr gute Erklärung dafür. Herzog Jean hat eine umfängliche
Weitere Kostenlose Bücher