Die Schreckenskammer
Zeit wie möglich allein zu verbringen, auch wenn seine speichelleckerischen Cousins De Sille und De Briqueville immer versuchten, sich an ihn zu klammern. Wenn es den Anschein hatte, als wäre er wieder in einer seiner düsteren Tagträumereien versunken, fragte ich meinen jungen Herrn, was er denke, doch es näherte sich die Zeit, da er mich, die Amme seiner Kindheit, abschüttelte, wie eine Schlange eine Haut abstreift, die ihr zu eng wird. Normalerweise beachtete er mich einfach nicht, doch wenn er sprach, behauptetet er oft, er wäre mit seinen eigenen Vorstellungen beschäftigt, doch nur selten verriet er mir, worin diese Vorstellungen bestanden. Oft sagte ich dann »Aha«, als würde ich verstehen, doch ich tat es nicht.
Michel versuchte, Milord in der Zeit nach dem Hinscheiden von Vater und Mutter aus seinem Kummer zu reißen. Er reizte ihn mit beflügelnden Beschäftigungen wie Jagen oder Fechtübungen. Aber seine ernsthaften, von Herzen kommenden Appelle – warum spielst du den Geisterbeschwörer, Bruder, da die Sonne doch so hell und strahlend scheint? Komm, lass uns stattdessen ausreiten und ein paar Füchse mit dem Lärm unserer Schwerter das Fürchten lehren – blieben größtenteils unbeachtet. Ich vermute, es ist nur angemessen, dass man in Zeiten, da man von einem nahe stehenden und geliebten Menschen auf dieser Erde zurückgelassen wird – in Milords Fall von zwei Menschen sehr kurz hintereinander –, die Einsamkeit sucht, um nachzudenken über Tod und Leben und alles, was dem Trauernden gerade in den Sinn kommt. Ich weiß das so gut wie kaum jemand sonst.
Wenn er selbst sein wichtigster Gefährte in diesen dunklen Stimmungen war und nicht gestört werden wollte, war es an Michel, sich selbst zu beschäftigen. Dies tat er mit Lesen oder mit Schattenfechten, oder er maß sich mit seinem Vater in der Kriegskunst, wenn Etienne gerade im Schloss weilte und nicht anderweitig beschäftigt war. Dies kam oft vor in der unruhigen Zeit nach Milord Guys Hinscheiden, denn Jean de Craon war damit beschäftigt, die Besitztümer seiner Tochter zu sichern. Er war tückisch in seiner Entschlossenheit, die einzelnen Liegenschaften als ein Erbe zu erhalten, doch niemand machte ihm das zum Vorwurf, denn wir alle wussten, dass er als Vater nur die Interessen seiner Tochter zu wahren suchte, die nach dem unerwarteten Tod ihres Gatten wie gelähmt war. Doch dann besaß Madame Marie die Unverfrorenheit (einmal hörte ich Jean de Craon sie für diese Unannehmlichkeit verfluchen), selbst zu sterben.
Milord Gilles wurde, im zarten Alter von elf Jahren, in zwei widersprüchliche Positionen gestoßen. In den Augen der Welt war er der unmündige Herr eines riesigen Besitzes, dem noch der kleinste Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Zugleich aber war er eine Marionette seines schändlichen Großvaters. Zu dieser Zeit kam es zu einer sichtbaren Entfremdung zwischen ihm und Michel. Davor war der Unterschied ihres Standes kaum von Bedeutung gewesen – sie waren einander wie Brüder. Aber ich nehme an, der Lauf der Zeit verändert alles, einige steigen auf, andere fallen, wie das Schicksal es will. Geliebte Menschen kommen und gehen, wer geht, schickt Briefe, wenn er die Möglichkeit und die Bildung dazu hat.
Briefe von Michel – wenn Gott mir nur einen gewähren würde, und wenn ich zwischen den Zeilen eine vernünftige Erklärung dafür finden könnte, was mit ihm geschehen war, dann würde ich als Gegenleistung Mittel und Wege finden, den Rest meiner Tage ohne Sünde zu leben. Wie würde seine erwachsene Handschrift aussehen? Seine Kinderschrift war dermaßen schwungvoll gewesen … Ich kannte Jeans ordentliche Zeilen, und ich würde mein Seelenheil verwetten, dass ich, wenn man mir tausend Pergamente vorlegte, das von ihm geschriebene herausfinden würde. Die flüssigen Zeilen des Texts, welche die Seite von links nach rechts überquerten, waren so vollkommen gerade wie der Meereshorizont. Ich weiß nicht, ob Michels Zeilen auch so ordentlich verlaufen wären; er war ein viel ungezügelterer Junge als Jean in seinem Alter, bestimmt für die Schlacht, wie sein Vater es gewesen war, ganz im Gegensatz zur Reihenfolge der Geburt, die ihn für die Kirche und Jean für die Schlacht ausersah. Man kann ein Kind nicht zwingen, zu werden, was es nicht sein will, zumindest meiner Meinung nach, auch wenn ich weiß, dass es schon unzählige Male getan worden ist. Aber wir leben in einer modernen Zeit, in der wir unseren Söhnen
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