Die Schreckenskammer
jenen an der Spitze aufgezwungen wurde, hätte er nicht ertragen. Er hätte ihn auch nicht ertragen müssen. Aber Milord Guy hatte nicht zugelassen, dass sein Sohn in einer Gruppe unterrichtet wurde, nur die Anwesenheit meiner Söhne Jean und Michel war gestattet; meine Gedanken waren also reine Vermutung. Aber es war eine Vermutung, die auf tiefem Wissen gründete, wie alle meine Vermutungen über ihn.
»Eminenz«, sagte ich leise. »Ich kenne seine Seele besser als irgendein Lebender, vielleicht sogar seine Gattin eingeschlossen. Ich habe ihn geformt. «
»Ich verstehe, dass Euch das schmerzt«, erwiderte er bedächtig. »Aber Ihr vor allen anderen solltet wissen, dass der Mann die Grenzen missachtet, die ihm gesetzt wurden. Es wird eine Zeit kommen, da wird er sogar Gott selbst zu missachten versuchen, und das wird sein endgültiger Untergang sein. Denkt an meine Worte – es wird geschehen, wie ich es prophezeit habe.«
Mitte Mai, an einem warmen, sonnigen Tag, an dem die Welt ein besserer Ort hätte sein sollen, als sie tatsächlich war, tat Milord Gilles wie prophezeit. Er ritt von Champtocé zu der Abtei in Saint-Etienne-de-Mer-Morte, begleitet von vielleicht sechzig Männern in voller Rüstung und Bewaffnung, als sollte ein kleines Land eingenommen werden und nicht eine Abtei mit Kirche. Milord selbst schwang dem Vernehmen nach eine lange, spitze Pike, obwohl nur wenige Soldaten eine solche so tödlich zu handhaben wissen wie jene der unauffälligeren Art, das hatte zumindest mein Gatte einmal gesagt. Es sei das gefährliche Aussehen, das den Feind zur Unterwerfung ängstigt, hatte Etienne behauptet. Er hatte wohl Recht gehabt, denn Gilles de Rais traf auf keinerlei Widerstand. Nicht, dass er mit viel hätte rechnen müssen – der »Kommandant« des Schlosses war ein tonsurierter Kleriker, Jean le Ferron, ein Mann, der für seine Großzügigkeit und sein sanftes Wesen berühmt war.
Die Nachricht gelangte zu uns durch einen schnellen Reiter, dessen schäumendes Pferd beinahe zusammenbrach, als der Mann abstieg. Frère Demien und ich waren zu der Zeit im Garten, wo wir ein wenig konspirierten ob des geeigneten Ortes für eine gewisse Pflanze, wenn auch Diskussionen dieser Art dank des Fachwissens und der Leidenschaft meines Bruders in Christus immer von ihm beherrscht wurden. Doch Leidenschaft hin oder her, als mein Klatsch liebender Bruder den Boten geradezu in den Bischofspalast rennen sah, entschuldigte er sich, doch erst nach einem schnellen Blick, der eilige Rückkehr versprach, sobald er sich ausreichendes Wissen über dieses knospende Geheimnis verschafft hatte.
Die Geschichte, mit der er zurückkehrte, ließ mich, die Röcke gerafft, zu Jean de Malestroit eilen, der schnell bestätigte, was Frère Demien bereits verraten hatte.
»Warum sollte er mit Gewalt Ländereien einnehmen, die ihm durch Erbe zugefallen sind?«, fragte ich ehrlich erstaunt.
»Sie gehören ihm nicht mehr.«
»Er würde Saint-Etienne niemals verkaufen!«
»Wie es aussieht, hat er es getan. An Geoffrey le Ferron.«
Der Kämmerer des Herzogs Jean, kein Freund de la famille de Rais. »Wie könnt Ihr es wagen …«
»Mäßigt Euch, Guillemette – ich weiß, dass es wahr ist. Es wurde in Machecoul vereinbart.«
Staatsangelegenheiten war alles, was Jean de Malestroit mir sagte, als ich ihn nach dem Zweck einer Reise fragte, die wir im vergangenen Herbst unternommen hatten. Die Besprechungen, die hinter verschlossenen Türen stattfanden, waren geheim und, nach den Mienen der abreisenden Teilnehmer zu urteilen, von düsterem Ernst. Jetzt ergab alles einen Sinn; natürlich würden Milords Vertreter düstere Mienen machen, wenn sie ein solches Juwel wie Saint-Etienne aufgeben mussten.
»Le Ferron hätte stattdessen Truppen dort einquartieren sollen. Sein Bruder ist Manns genug, den Alltag eines solchen Ortes zu überwachen, aber nicht, ihn zu verteidigen. Natürlich hatte er von Milord de Rais ein solch doppeltes Spiel nicht erwartet, sonst hätte er den Besitz nicht so ungeschützt gelassen.«
Man kann sich nicht vorstellen, was für eine lächerliche Szene dies gewesen sein musste – Gilles de Rais, stolz und bewaffnet auf seinem riesigen Ross, wie er diesen furchtsamen Mann beleidigte und mit Körperverletzung bedrohte, nachdem er vom Marquis de Ceva in Ketten herausgeschleift und zu Boden geworfen worden war. Eine verzweifelte und beschämende Tat.
»Aber warum sich von Saint-Etienne trennen?«, stöhnte ich beinahe.
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