Die Schreckenskammer
nicht.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, rief ich beinahe flehend. »Vielleicht nutzen sie ihre Vertrauensstellung bei ihm aus, um ohne sein Wissen Verlockungen anzubieten. Diese Möglichkeit besteht immer, Eminenz.«
Jean de Malestroit warf mir einen besorgten Blick zu. »Nun, möglich ist es, und man darf es nicht außer Acht lassen.«
Es fiel mir auf, dass der Bischof sich bemühte, die Fassung zu wahren. Ich jedoch erlegte mir eine solche Beschränkung nicht auf.
»Es widerstrebt mir, dies von ihm zu glauben«, fuhr ich fort. »Mein Verstand sagt mir das eine, mein Herz etwas anderes.«
Es war eine Lüge. In meinem Herzen kannte ich die Wahrheit. Auch damals schon.
Seine Eminenz verblüffte mich nun mit einer beinahe bösartigen Erklärung. »Was mich angeht«, schäumte er, »so hat mein Verstand wenig Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass Gilles de Rais beim Streben nach unreiner Lust allen Anstand bedenkenlos über Bord werfen könnte.«
Einige Augenblicke stand ich sprachlos da und verschränkte dann die Arme vor der Brust, wie um mein Herz zu schützen. »Euer Eminenz, er ist ein Edelmann – von ihm erwartet man nicht, dass er sich an die Regeln des gewöhnlichen Lebens hält. Ihr kennt seine Geschichte – Ihr kennt ihn sein ganzes Leben lang.«
»Wie Ihr, wenngleich nicht gar so vertraut. Wobei meine geringere Kenntnis mir einen schärferen Blick ermöglicht als Euch – mir scheint, dass Eure Gefühle Euch auf eine höchst weibliche Art blenden. Ich hatte von Euch in dieser Angelegenheit Besseres erhofft.«
Die Beleidigung schmerzte, aber ich ließ sie durchgehen, begriff ich doch, dass die Menschen manchmal solche Spötterei als Waffe zur Verteidigung einer schwierigen Position benutzen. »Ihr könnt nicht leugnen, dass sein Leben, auch unabhängig von seinem Stand, alles andere als gewöhnlich war.«
»Das gebe ich gern zu, Schwester, sowohl im Guten wie im Schlechten. Aber vor den Augen Gottes ist er nicht mehr und nicht weniger gewöhnlich als jeder andere Mensch. Trotzdem verhält er sich, als wäre er sein eigenes Gesetz. Er verantwortet sich vor niemandem.«
Obwohl die Taten, die wir untersuchten, einer solchen Verachtung würdig waren, waren wir uns alles andere als gewiss, dass jener Mann, den er mit ihr bedachte, sie wirklich verdient hatte. Es überraschte mich sehr, solch unbändiges Gebaren von einem Mann zu hören, dessen makellosen Verstand ich so bewunderte und auf dessen Freundschaft ich mich stets verlassen konnte. Ich sah mich gezwungen, dieses barsche Urteil zurückzuweisen, ob es nun berechtigt war oder nicht. »Ich kenne ihn gut, Exzellenz. Ich sah ihn zu Ostern beten. Seine Gebete sind viel ernsthafter als die meinen, um die Wahrheit zu sagen.«
»Guillemette …«
Ich hob die Hand, viel forscher, als weise gewesen wäre. »Hört mich an«, fuhr ich fort, »auch wenn es Euch vielleicht missfällt. Er verantwortet sich vor Gott, Eminenz, wie wir alle. Ihr selbst wart anwesend, als er seine Sünden Gott darbrachte und freigesprochen wurde. Wir wissen nicht, welcherart die Sünden waren, welche Taten er …«
Ich musste mitten im Satz innehalten – sein Ausdruck zeigte eine so plötzliche und gänzliche Veränderung, dass mir die Stimme versagte. Die Augen unter seiner Braue zuckten schuldbewusst hin und her. Irgendwie hatte er offensichtlich Olivier des Ferrières dazu gebracht, ihm das im Beichtstuhl Vorgebrachte zu verraten, und kannte so Gilles de Rais’ Verfehlungen. Ich konnte nur vermuten, mit welchen Mitteln er dem geringeren Priester diese vertraulichen Enthüllungen entrissen hatte.
Als ich mich zum Gehen wandte – denn so groß war meine Empörung ob dieser Wendung der Dinge –, fasste er nach meinem Ärmel.
»Guillemette, es gibt viel, was Ihr über diesen Mann nicht wisst.«
Ich schüttelte seine Hand ab und ging langsam zum Fenster. Eine Schar Knaben, von denen ich einige als Söhne wichtiger Edelleute kannte, wurde von einem unserer Lehrmönche über das Pflaster des Hofs geführt. Die ersten gingen in stummer Einzelreihe hinter dem Bruder her, der sich ein hoch geschätztes Buch an die Brust drückte und entschlossen nach vorne starrte. Diejenigen am Ende der Schlange befleißigten sich eines viel weniger schicklichen Verhaltens; sie sprangen umher und schlugen mit der offenen Hand nacheinander. Gilles de Rais hätte sich ans Ende der Schlange zurückfallen lassen, damit er an dieser Ausgelassenheit teilnehmen konnte; den Ernst, der
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