Die Schreckenskammer
echte Führungsqualitäten ist, wenn ein Junge es schafft, Anführer einer solchen Gruppe zu sein. Aber wie formuliert man das auf einem Bewerbungsformular? Ich habe eine Gang angeführt, habe die Jungs bei der Stange gehalten, also gebt mir endlich ’nen verdammten Job.
Von der Promenade war niemand verschwunden, zumindest nicht, soweit ich mich erinnern konnte, was bei der Masse an Degenerierten ziemlich überraschend war. An den Rudelführern würde sich niemand vergreifen – es würde schon einen der weniger Auffälligen aus dem Gefolge treffen. Wenn ich ein Entführer wäre, nach welchen Kriterien würde ich mir mein Opfer aussuchen? Ich beobachtete die Gruppe einige Augenblicke und konzentrierte mich dann auf einen einzelnen Jungen, weil mein Bauch mir sagte, dass er der Verletzlichste der Gruppe war.
Ich stellte mir vor, dass er sich kurz von der Gruppe entfernte und ich mich an ihn heranschlich. He, Junge, brauchste was? Gras? Koks? Ecstasy? Dann könnte ich ihn weiter vom Rest der Gruppe weglocken und voilà – er wäre mein.
Das war etwas übertrieben, denn so leicht würde es nicht sein. Aber unmöglich wäre es auch nicht.
Auf einer Parkbank aß ich mein Chili und betrachtete weiter die Passanten, von denen viele Einkaufstüten schleppten. Ich beneidete sie um ihre Muße. Dann war es nur noch eine kurze Fahrt bis zur Adresse der Wilders. Mrs. Wilder öffnete fast augenblicklich die Tür. Sie hatte ein angenehmes Gesicht mit einem freundlichen Lächeln, aber so traurige Augen. Larrys Mutter sah älter aus, als ich erwartet hatte, aber ein solches Martyrium, wie sie erlebt hatte und noch immer durchmachte, kann einen Menschen wirklich altern lassen. Wir haben das alle schon zu oft gesehen.
Ich hatte noch kaum die Marke aus der Tasche gezogen, als sie schon sagte: »Detective Dunbar? Bitte kommen Sie herein.«
Was, wenn ich nicht Detective Dunbar gewesen wäre? Die Leute sind einfach zu nachlässig, was ihre Sicherheit betrifft. Ich sagte nichts – denn es wäre wie Salz in einer Wunde gewesen. »Ja. Mrs. Wilder?«
»Kommen Sie doch rein.« Sie streckte die Hand aus. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie freundlich. So nett und höflich. Als ich dann im Wohnzimmer stand, wanderte mein Blick zu einem Familienfoto auf dem Stutzflügel in einer Ecke. Mutter und Vater und vier Kinder. Der Blonde, Larry, war das kleinste und wahrscheinlich das jüngste. Diese Mutter schleppte sicher, wie alle anderen Mütter, eine tonnenschwere Last von Selbstvorwürfen mit sich herum – Larry war ihr Baby, und wir sehen Disziplin und Wachsamkeit bei unseren jüngsten Kindern viel lockerer als bei unseren älteren. Natürlich verziehen wir unsere ältesten Kinder bis zum Gehtnichtmehr, aber wenn dann die jüngsten kommen, sind wir schon entspannte Profis, die immer die richtigen Antworten parat haben. Wahrscheinlich hatte sie Larry viel mehr unbeaufsichtigt tun lassen als ihre ersten Kinder.
Ich ging zum Flügel und deutete auf das Foto. »Darf ich?«
»Bitte«, sagte sie.
Mit dem Zeigefinger deutete ich auf Larry. »Er sieht ein bisschen anders aus als auf dem Foto, das Sie uns gaben.«
»Ich weiß. Aber das andere ist präziser. Er lässt sich nicht gerne fotografieren, und deshalb sieht es bei ihm nie natürlich aus, wenn wir posieren. Aus diesem Grund habe ich Detective Donnolly auch das ungestelltere Foto gegeben. Darauf sieht er mehr aus wie der wirkliche Larry.«
»Aha. Ich glaube, das ist typisch für das Alter.«
»Ja«, sagte sie leise. »Und das sind meine anderen Kinder.«
Ihre überlebenden Kinder, dachte ich. Ich schalt mich für diese negative Haltung, während sie mir die anderen Kinder vorstellte, deren Namen ich sofort wieder vergaß, weil ich sie nie brauchen würde. Aber ihr Alter war für mich von Interesse und potenziellem Nutzen.
»Zwanzig, achtzehn und fünfzehn«, erklärte sie mir und deutete dabei auf jedes Kind.
Wir setzten uns, und ich wiederholte die Details des Falls so, wie ich sie in Donnollys Akte gelesen hatte. Der Onkel war von Zeugen gesehen und identifiziert worden, aber er war zu der Zeit auf der Feuerwache gewesen, zusammen mit sechs anderen Feuerwehrmännern, die alle gerichtsverwertbare Aussagen zu seinen Gunsten abgegeben hatten. Mrs. Wilder hatte zu den Informationen, die Donnolly ausgegraben hatte, nichts Neues hinzuzufügen. Es wurde Zeit, dass ich meine eigene Schaufel auspackte.
»Hatte Larry ein eigenes Zimmer?«
»Ja, das hatte
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