Die Schrift an der Wand
fragen Sie so was?«
»Na ja, ich hatte nur den Eindruck, daß es da einen … Vorfall
gegeben hätte … Zwischen Åsa und ihren Eltern.«
»Åsa? Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Nein. Tja, das war schon alles. Wenn Ihnen nicht noch etwas
einfällt?«
»Nein, leider.«
»Ich wollte sowieso morgen in der Schule vorbeischauen.
Kann ich dann gleich hier vorbeikommen, wegen der Liste?«
»Ich werde da sein. Wann ungefähr?«
»Irgendwann zwischen zehn und zwölf?«
»Ist gut.« Sie blieb stehen, die eine Hand an der Türklinke. Mit
der anderen berührte sie meine Schulter. »Ich hoffe, Sie finden
sie!«
»Ich auch.«
Sie öffnete die Tür hinter sich. Dann schenkte sie mir ein
blasses Lächeln und verschwand wieder im Haus.
Ich ging den Weg zurück zum Auto und fuhr nach Hause.
Gegen halb neun rief Thomas an und fragte, ob er und Mari auf
dem Weg zum Bahnhof vorbeikommen könnten.
Wir hatten also nicht mehr als eine knappe Stunde, kaum
genug für eine gemeinsame Tasse Tee und eine halbe Flasche
Bier. Wir erwähnten weder die Beerdigung noch Stavanger mit
einem Wort. Ich wußte nicht, wieviel Beate ihnen von ihren
Plänen erzählt hatte.
Danach begleitete ich sie hinunter und blieb am Bahnsteig
stehen, und wir unterhielten uns, bis der Zug abfuhr. Als sich
der rotbraune Schlafwagen in Bewegung setzte und langsam an
mir vorbeiglitt, beugten sie sich zum Fenster hinaus und
winkten.
Beim Verlassen des Bahnhofs kam ich an ein paar Teenagermädels vorbei, die alle mit einer Colaflasche in der Hand und
einer Zigarette im Mundwinkel die Wartehalle durchquerten.
Die Art, wie sie gingen, zeigte, daß zumindest ein paar von
ihnen die Cola mit etwas weitaus Stärkerem gemischt hatten.
Kinder kommen und gehen. Ehe du dich versiehst, sind sie
erwachsen und verschwinden. Einige nehmen den Zug nach
Oslo, andere nur den Bus in die Stadt. Aber die Richtung ist
dieselbe. Sie wollen weg, weg, während die Eltern dastehen und
sich fragen, was eigentlich vor sich geht. Oder sich an so einen
wie mich wenden, um nach den Gründen zu suchen.
4
Am folgenden Tag lag bitterer Frost in der Luft, der einen kalt
und mit feuchten Pranken begrüßte.
Das Auto hatte kaum Zeit gehabt, richtig warm zu laufen, als
ich schon vor der Nattland Schule parkte und ausstieg. Das
flache Schulgebäude lag am Rande des engen Tals, das Sædal
mit Sandalsbotn verbindet, und der Februar hatte seine Runen in
Schwarz-Weiß in den steilen Hang auf der gegenüberliegenden
Seite geritzt. Die Straßen trugen Namen wie Marsveg und
Merkurveg, als erwarteten sie jederzeit Besuch von anderen
Orten unseres Sonnensystems und als hätten sie alles getan,
damit die Gäste sich wie zu Hause fühlten.
Es war Pause, und auf dem Schulhof konnte man leicht zwischen den Grundschulkindern und denen, die in der Mittelstufe
waren, unterscheiden. Die Kleineren waren mit Spielen beschäftigt, die anderen zogen suchend ihre Kreise, die Mädchen Arm
in Arm, die Jungs mit den Händen so tief es ging in den Hosentaschen.
Ich ging zum Lehrerzimmer und fragte nach Helene Sandal.
Eine brünette Frau in den Dreißigern mit leicht von Akne
verfärbter Haut, ovaler Goldbrille, rotem Pullover und blauen
Jeans kam an die Tür.
Ich stellte mich vor und sagte ihr, worum es ging.
Sie nickte ernst. »Kommen Sie herein.« Sie sah durch die
offene Tür in ein kleines Büro. »Wir können hier reingehen.«
Die Büroeinrichtung bestand aus einem Schreibtisch, zwei
Stühlen und einem Telefon. Auf einer Seite des Schreibtisches
lag ein Berg von ungefähr dreißig Arbeitsheften, die darauf
warteten, korrigiert zu werden.
»Torilds Mutter hat mich engagiert«, erklärte ich.
»Ich verstehe.«
»Ich war ursprünglich beim Jugendamt, deshalb hab ich …
schon öfter mit ähnlichen Fällen zu tun gehabt.«
Sie sah auf die Uhr. »Wie kann ich helfen?«
»In erster Linie wüßte ich gerne Ihre Meinung über Torild, als
Schülerin und als … Mensch.«
Sie preßte die Lippen zusammen, um zu zeigen, daß sie nachdachte. »Tja. Sie hat sich verändert.«
»Wie langen kennen Sie sie schon?«
»Seit der Siebten. Fast drei Jahre.«
»Und …«
»Das ist natürlich eine wichtige Phase im Leben eines jungen
Menschen. Das wissen Sie genausogut wie ich. Aber …« Sie
betrachtete mich zögernd. »Ich weiß nicht, ob Frau Skagestøl
Sie über die familiäre Situation informiert hat.«
»Doch. Die ist mir bekannt. Hat man Torild etwas angemerkt?«
»Das ist etwas schwer zu sagen.
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