Die Schrift an der Wand
Unbekannten hatte ich noch nicht zu rechnen
angefangen. Und jetzt werde ich wohl kaum dazu …«
»Nein, das werden Sie wohl nicht.«
»Nein?«
»Nein!« Er schwang sich ein Stück mit seinem Bürostuhl
herum, richtete den Blick auf einen Punkt irgendwo an der
Wand und zeigte mit einem Finger, so knackig wie ein Weißwürstchen, darauf. »Sehen Sie den Kalender da, Veum?«
»Ja.« An der Wand hing ein klassischer Ganzjahreskalender,
ohne Illustration, das Kalendarium unterteilt wie ein Fenster in
die Zukunft, was es zu diesem Zeitpunkt des Jahres in gewisser
Weise auch war. Um eine der Ziffern war mit Filzstift ein
großer, dunkelroter Kreis gezeichnet.
»Sehen Sie das markierte Datum da?«
»l. März?«
»Genau.« Er zog die Mundwinkel zur Seite und entblößte die
Zähne, was man mit gewissem Wohlwollen vielleicht als ein
Lächeln bezeichnen konnte. Ich hätte es eher ein Wolfsgrinsen
genannt. »Der Tag der Befreiung!«
»Ist das nicht immer noch der 8. Mai?«
»Der Tag meiner Befreiung, Veum! Der Tag, an dem ich
abtrete, in den Ruhestand!«
Einen Augenblick war mir, als würde die Zeit mir in den
Nacken blasen, wie der Frostatem an einem kalten Wintertag.
Ein Leben ohne Muus? War das möglich? Und warum empfand
ich nicht das geringste Anzeichen eines Glücksrausches bei dem
Gedanken?
»Sie sind mit anderen Worten sechzig?«
»Am 27. Februar!« lächelte er, stolz wie ein Sechsjähriger.
»In dem Alter sollten vielleicht auch Privatdetektive in Pension gehen.«
»Sechzig?« sagte Muus trocken. »Die meisten geben auf,
wenn sie vierzehn sind.«
»Und wie gedenken Sie also die kommenden Jahre zu verbringen? Als Gerichtsdiener oder als Stadtbote?«
Ein neuer Zug erschien auf seinem Gesicht, ein ganz anderer,
ein weicherer Zug, als ich je darin gesehen hatte. »Ich habe
immer besondere Freude an Blumen gehabt, Veum.«
»Ach ja?«
»Schon zu Ostern werden meine Frau und ich zur Frühjahrsblüte nach Holland fahren. Und den Rest des Jahres werde ich
so viele Stunden wie möglich draußen verbringen, im Garten.«
»Das klingt nett.«
Er sah mich scharf an. Dann verschwand der verträumte
Ausdruck aus seinem Gesicht, und er kehrte zu dem zurück, was
noch sein grauer Alltag war. »Was ich also meine, Veum, ist
Folgendes. Ich gedenke nicht, mir die letzten paar Wochen
meines Daseins in diesem Kämmerlein dadurch versauen zu
lassen, daß Sie uns die ganze Zeit zwischen den Füßen rumrennen und den Superdetektiv spielen, auf Kosten von uns
gewöhnlichen, Überstunden schiebenden Angestellten! Ist das
klar?«
»Ich hatte nicht die Absicht …«
»Ist das klar, hab ich gefragt?«
»Ja.«
»Und ich habe auch nicht die Absicht, wie Vegard Vadheim
zu enden.«
»Nein, das kann ich verstehen.«
»Nur noch eins, bevor Sie gehen, Veum.«
»Ich hab’s nicht eilig.«
»Aber ich!« Er hantierte mit einem großen, weißen Umschlag.
»Während Ihrer Nachforschungen, haben Sie da irgendwas
…«
Er zögerte.
»Ja?«
»Ich meine …« Er wirkte fast peinlich berührt. »Hatte sie
irgend etwas zu tun mit – Sie wissen schon, diesen sogenannten
satanistischen Kreisen?«
»Nein, überhaupt nichts, aber das … Warum fragen Sie danach?«
»Ach, war nur so eine Idee. Sie wissen, der Ort, wo wir sie
gefunden haben, lag nicht so weit vom Lysekloster entfernt, und
…
Ja, es gab doch Gerüchte, daß da oben – wie nennen sie das,
schwarze Messen? – abgehalten würden.«
»Ja, ja, irgendeine Form von karnevalistischen Aktivitäten gab
es da offensichtlich, aber … Ist das der einzige Grund, weshalb
Sie fragen?«
Er sah zehn Zentimeter über den höchsten Punkt auf meinem
Kopf. »Ja.«
Als ich sein Büro verließ, hatte ich den Schock noch nicht
ganz verwunden. Blumen? Muus? Die einzigen Pflanzen, von
denen ich mir vorstellen konnte, daß er Freude an ihnen hatte,
mußten Kakteen sein.
Auf dem Weg nach draußen sah ich kurz in Eva Jensens Büro.
Sie saß am Telefon, nickte kurz und wendete mir den Rücken
zu, um zu unterstreichen, daß sie keine Minute übrig hatte für
umherziehende Ritter.
Ein neuer Mann war in das Büro von Vegard Vadheim eingezogen, ein großer, brünetter Teddybär von einem Kerl, Mitte
Dreißig, mit dunklem Bart, einem gemütlichen Lächeln und
einer offensichtlich positiven Lebenseinstellung.
Er warf mir durch die offene Tür einen Blick zu, grüßte mit
einem Finger an der Stirn, und ich hielt inne.
Ich sah in seinem Gesicht, daß er unsicher wurde, weil er mich
nicht einordnen
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