Die Schrift an der Wand
Wolkendecke über den
Bergen war auch aschgrau, ohne die Spur eines Leuchtens nach
dem Sonnenaufgang.
Eine junge, vorläufig noch nicht identifizierte Frau war ungefähr in der Mitte zwischen Fanaseter und Nordvik am Osthang
des Fanafjells in einem Kieshaufen gefunden worden. Sie war
nur halb bekleidet, und es gab deutliche Anzeichen von Gewaltanwendung. Allerdings war es noch zu früh für eine Aussage
darüber, ob sie das Opfer eines Sexualverbrechens geworden
war. Auch die Todesursache stand noch nicht fest. Der Leiter
der Untersuchungen, Oberkommissar Dankert Muus, gab zu
verstehen, daß die Polizei sich vorläufig darauf konzentriere, die
Frau zu identifizieren und außerdem die Spuren am Fundort zu
sichern und auszuwerten.
Ich stand auf, ging zum Waschbecken, goß mir ein Glas
Wasser ein, trank es, ging wieder zum Schreibtisch, setzte mich,
räumte einige Papierhaufen zur Seite und zählte langsam bis
zehn. Dann nahm ich den Hörer ab, wählte die Nummer der
Polizei und fragte nach Muus. Er war nicht da.
Ich zögerte einen Moment. »Es geht um die Leiche auf dem
Fanafjell. Können Sie mich mit jemand anderem verbinden?«
Das konnte sie. Ich bekam Eva Jensen nach zwanzig Sekunden
an die Strippe.
»Hier ist Veum.«
»Ach …«
»Es geht um diese junge Frau, die ihr gefunden habt. Ist sie
schon identifiziert?«
»N-nein. Muus ist gerade in der Gerichtsmedizin, zusammen
mit einem Mann, der …«
»… möglicherweise der Vater ist. Holger Skagestøl,
stimmts?«
»Darüber kann ich keine …«
»Okay. Die Sache ist die – ich arbeite an einem Fall. Ein
Mädchen ist seit circa einer Woche verschwunden. Torild
Skagestøl. Vorläufig habe ich äußerst wenig Spuren von ihr
gefunden, und wenn dann plötzlich eine junge Frau auftaucht,
tot, dann mache ich mir Gedanken, wenn Sie verstehen, was ich
meine.«
»Wir haben auch noch nicht so viele Details, Veum.«
»Wenn Muus zurück ist, könnten Sie ihn bitten, mich anzurufen?«
»Darauf können Sie sich verlassen, Veum.«
Nach dem Gespräch saß ich da und starrte vor mich hin.
Es war tote Zeit, im wahrsten Sinn des Wortes. Ich setzte die
Namen, die ich mir in Verbindung mit Torild Skagestøls
Verschwinden notiert hatte, auf eine Liste.
Åsa Furubø (Trond, Randi)
Astrid Nikolaisen (Gerd, Kenneth?)
Helene Sandal, Nattland Schule Sigrun Søvik, Pfadfindergruppenleiterin »Jimmy«: Kalle? (Ronny)
Und was war mit dem Hotel, wohin ich den beiden Mädchen
aus dem Jimmy gefolgt war? Fast mechanisch erweiterte ich die
Liste um einen Namen: H. C. Brandt, Richter. Danach rief ich
Paul Finckel an.
Seine Stimme klang belegt, als sei er früh aufgestanden – oder
als habe er schon Wochenende.
Er kam mir zuvor. »Varg? Sag nichts! Du hast doch nicht etwa
auch mit diesem Mord was zu tun?«
»Das kommt darauf an. Weißt du was darüber?«
»Sie ist noch nicht identifiziert.«
»Das weiß ich. Aber hast du was über die Umstände?«
Ich hörte, wie er in Papieren blätterte. »Ob sie in Umständen
war? Ich beteuere meine Unschuld, Herr Anwalt.«
Ich wartete.
»Jedes Lachen verlängert das Leben, Varg. Wußtest du das
nicht?«
»Doch. Aber meine Tage sind auch so schon lang genug.«
»Hier, woll’n mal sehen. Sie wurde gestern abend gefunden.
Gegen zehn. Es war ein Jogger, der, äh, aus natürlichen Gründen
mal an den Wegrand mußte und dann da oben am Abhang
herumrutschte. Der Himmel weiß, ob der jemals wieder joggen
geht.«
»Jogger wirft so schnell nichts um.«
»Jedenfalls entdeckte er, daß dort etwas lag, unter ein paar
Sträuchern, ging näher heran, um nachzusehen, und – tja. Den
Rest kennst du.«
»Nicht mehr, als in der Zeitung steht.«
»Viel mehr ist auch nicht zu sagen. Ihre Kleidung war in
Unordnung, aber die Polizei kann noch nicht sagen, ob sie
vergewaltigt wurde oder ob sie anderen sexuellen Übergriffen
ausgesetzt war, wie es so schön heißt.«
»Todesursache?«
»Noch nichts, bis jetzt. Weißt du mehr?«
»Noch nicht. Aber ich suche ein Mädchen, seit ein paar Tagen,
und finde sie nicht …«
»Wie heißt sie?«
»Tja – Wenn sie es nicht ist, dann …«
»Hundert Prozent vertraulich, Varg.« Er senkte die Stimme.
»Eine Hand wäscht die andere. Wenn du das nächste Mal
anrufst, könnte ich äußerst beschäftigt sein.«
»Unter uns also, Paul. Sie heißt Torild Skagestøl.«
Ich sagte ihren Nachnamen schnell und wie zufällig dahin,
aber er schaltete sofort. »Verwandt mit Holger?«
»Die Tochter.«
»Aha.« Ich hörte,
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