Die Schuld des Tages an die Nacht
eine atavistische Scheu, offen darüber zu sprechen. Es entsprach eher unserer Tradition, versteckte Anspielungen zu machen oder die Dienste eines Dritten in Anspruch zu nehmen – er hätte höchstens Germaine vorgeschickt, um ein paar Takte mit mir zu reden.
»Ichwar im Hinterzimmer, und die Tür stand zufällig offen.«
»Das macht doch nichts.«
»Vielleicht sollte es auch so sein? Manchmal bringt eine unbeabsichtigte Indiskretion mehr Nutzen als Schaden. Man kann nie wissen. Ich habe dein Gespräch mit diesem Mädchen mit angehört. Ich habe mir gesagt, schließ die Tür. Aber ich habe sie nicht geschlossen. Nicht aus krankhafter Neugier, sondern weil ich es wunderbar finde, der Symphonie der Herzen zu lauschen … Wenn du erlaubst …?«
»Natürlich.«
»Du kannst mich jederzeit unterbrechen, mein Junge.«
Er setzte sich auf die Bank, musterte der Reihe nach seine Finger, dann begann er mit gesenktem Kopf und entrückter Stimme:
»Wenn der Mann meint, seine Bestimmung am besten dadurch zu erfüllen, dass er die Frauen schmäht, ist sein Leben ein Irrtum, ein Missgeschick, ein Rechenfehler und ein falsches Manöver, tollkühner Leichtsinn und ein einziger Fehlschlag. Sicher, die Frau ist nicht alles , aber alles beruht auf ihr. Schau dich nur um, wirf einen Blick in die Geschichte, sieh dich um auf der ganzen Welt, und dann sag mir, was die Männer ohne die Frauen sind, was all ihre Wünsche und Gebete taugen, wenn sie anderes als die Frauen preisen … Ob du nun reich wie Krösus bist oder arm wie Hiob, Unterdrückter oder Unterdrücker – sobald die Frau sich von dir abkehrt, schrumpft dein Horizont.«
Er lächelte, als hielte er Zwiesprache mit einer fernen Erinnerung:
»Wenn der äußerste Ehrgeiz des Mannes nicht auf die Frau gerichtet ist, wenn sie nicht oberstes Ziel all unseren Strebens auf dieser Erde ist, ist das Leben weder der Mühe noch der Freude wert.«
Er schlug sich auf die Schenkel und richtete sich auf:
»Als ich klein war, bin ich oft auf den Grand Rocher geklet tert,um den Sonnenuntergang zu sehen. Es war faszinierend. Ich dachte, dies sei das Antlitz der Schönheit. Dann entdeckte ich den Schnee, der Wälder und Felder mit dem himmlischen Frieden seiner weißen Decke überzog, ich sah Paläste inmitten traumhafter Gärten und noch manch andere schier unglaubliche Pracht, und ich fragte mich, wie es wohl erst im Paradies sein mochte …«
Er legte mir die Hand auf die Schulter:
»Weißt du, mein Junge, ohne die Paradiesjungfrauen wäre der Garten Gottes nur ein Stillleben …«
Seine Finger gruben sich in mein Fleisch, sandten Schwingungen durch meinen ganzen Körper. Wie Phönix erhob sich mein Onkel aus der Asche. Versuchte, mir das Wunder seiner Wiederauferstehung verständlich zu machen. Seine Augen sprühten Funken. Es war, als wäre jedes seiner Worte ein Teil seiner selbst:
»Sonnenuntergänge, Frühlingserwachen, Sternenhimmel und Meeresblau, all die Dinge, die uns gemeinhin so ergreifen, entfalten nur dann ihren Zauber, wenn in ihrem Mittelpunkt eine Frau steht, mein Junge … Denn die Schönheit, die einzig wahre, vollkommene und alles überragende Schönheit, das ist die Frau. Der Rest, der ganze Rest ist nichts als Beiwerk.«
Mit der anderen Hand bemächtigte er sich meiner freien Schulter. Er sah mir forschend in die Augen. Unsere Nasen berührten sich fast, und unser Atem vermischte sich. Ich hatte ihn noch nie in diesem Zustand erlebt, außer vielleicht an dem Tag, an dem er Germaine verkündet hatte, dass aus seinem Neffen ihr gemeinsamer Sohn geworden war.
»Wenn eine Frau dich liebt, Younes, wenn sie dich innig und aufrichtig liebt und du ermessen kannst, was dieses Geschenk bedeutet, dann reicht kein Gott an dich heran.«
Bevor er in sein Arbeitszimmer zurückging, fügte er, eine Hand schon am Treppengeländer, noch hinzu:
»Lauf ihr nach … Eines Tages wird der Mensch sicher imstande sein, einen Kometen einzuholen, doch wer die größte Chanceseines Lebens verpuffen lässt, den vermag aller Ruhm der Welt nicht zu trösten.«
Ich habe nicht auf ihn gehört.
Im Juli 1951 vermählte sich Fabrice Scamaroni mit Hélène Lefèvre. Es war ein rauschendes Fest, mit so vielen Gästen, dass die Hochzeit in zwei Akten gefeiert wurde. Der erste Akt war für die Gäste aus der Stadt und die Kollegen bestimmt, ein ganzes Kontingent an Journalisten, darunter die gesamte Redaktion des Écho d’Oran , viele Künstler, Sportler und ein Gutteil der Crème de la
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