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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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eine Insel, die aus meinem Archipel verschwand. Ich fing an, andere Straßen entlangzugehen. Diesen Häuserblock zu meiden. So zu tun, als hätte dieser Teil des Dorfes nie existiert. … André wiederum heiratete eine Cousine, die drei Jahre älter war als er, und flog in die USA . Er wollte einen Monat bleiben, doch seine Flitterwochen nahmen kein Ende … Nur José blieb in der Snackbar zurück, die nicht mehr solche Massen wie früher anzog – die Leute waren vom vielen Billardspielen abgestumpft.
    Ich langweilte mich.
    Der Strand sagte mir nicht mehr zu. Jetzt, wo alle meine Freunde fort waren, konnte der heiße Sand mir nichts mehr von den Freuden des süßen Nichtstuns flüstern, und die Wellen verwässerten meine Träumereien, zumal niemand mehr da war, mit dem ich sie teilen konnte. Oft verspürte ich nicht einmal mehr das Bedürfnis auszusteigen, sondern blieb hinter dem Steuer sitzen und betrachtete von der Höhe eines Steilfelsens herab die schweigsamen Klippen, an deren Flanken die Wogen wie Geysire schäumten. So verbrachte ich Stunde um Stunde imSchatten eines Baumes, die Hände auf dem Lenkrad oder die Arme nach hinten über die Lehne geworfen. Die Rufe der Möwen und die Schreie der Kinder umflatterten meine Sorgen und gewährten mir einen inneren Frieden, von dem ich mich erst tief in der Nacht losriss, wenn am Strand die letzte Zigarette verglüht war.
    Ich erwog, nach Oran zurückzukehren. In Río Salado fühlte ich mich nicht mehr wohl, das Dorftreiben war mir fremd geworden, ich lebte in einer Parallelwelt. Ich sah zwar, dass die Menschen dieselben waren, ihre Gesichter die altbekannten, doch ich fürchtete, wenn ich den Arm ausstreckte und sie berührte, nur Wind zu spüren. Eine Epoche war vorbei, ein Kapitel abgeschlossen. Eine neue Ära lag vor mir, blass, deprimierend, unangenehm. Ich brauchte Abstand. Einen anderen Himmel über mir, neue Horizonte. Ich erwog, sämtliche Brücken abzubrechen, da mich doch nichts mehr hier hielt.
    Ich fühlte mich allein.
    Ich dachte daran, die Suche nach meiner Mutter und meiner Schwester wieder aufleben zu lassen. Gott! Wie sie mir fehlten! Geradezu verkrüppelt war ich ohne sie, und todunglücklich. Ich war früher schon einmal, als sich zufällig die Gelegenheit bot, nach Djenane Djato zurückgekehrt, in der Hoffnung, ein paar Informationen, einen Wink zu ergattern, wo sie abgeblieben sein könnten. Und auch da hatte ich die Zeichen der Zeit verkannt. Überleben hieß das Gebot der Stunde. Sich aufs Wesentliche konzentrieren. Aufs Vordringliche. Auf die im Untergrund lauernden Furien. Wer wollte sich da an eine elende Frau mit einem behinderten Mädchen an der Hand erinnern? Die Leute hatten anderes zu tun. Zu viel Volk strömte tagaus, tagein nach Djenane Djato. Aus der einstigen Mördergrube inmitten von Baracken und Gestrüpp war ein richtiges Viertel geworden, mit lärmenden Sträßchen, schnippischen Fuhrleuten, wachsamen Ladeninhabern, überquellenden Badehäusern, asphaltierten Straßen und Tabakkiosken. Holzbein war noch immer da, eingezwängt zwischen der Konkurrenz. Der Bar bierrasierte nicht mehr Greisenschädel zu ebener Erde, sondern hatte einen kleinen Frisiersalon mit Wandspiegeln, einem Drehsessel, einem Ausguss und einem Messingregal für sein Arbeitsgerät. Unser Patio war von Grund auf renoviert, Makler Bliss hatte die Dinge wieder in die Hand genommen. Er hatte mir erklärt, er würde meine Mutter ohnehin nicht wiedererkennen, selbst wenn sie vor seiner Nase stünde, denn er habe sie ja nie aus der Nähe gesehen. Kein Mensch wusste, wo meine Mutter und Schwester waren, niemand hatte sie seit den dramatischen Ereignissen gesehen. Es war mir gelungen, Batoul, die Seherin, ausfindig zu machen. Sie hatte Karten und Zaubertopf gegen Handelslizenzen eingetauscht und ihre Geschäfte inzwischen besser im Griff als die Ängste der Leute; doch da ihre maurischen Badestuben immer gut gefüllt waren, hatte sie mir versprochen, mich zu informieren, sobald sich eine Spur auftat – das war jetzt zwei Jahre her, und noch immer kein Zeichen von ihr.
    Ich dachte mir also, die Suche nach Mutter und Schwester wieder aufzunehmen, würde die seelischen Qualen mildern, die ich seit Jean-Christophes Verschwinden durchlitt, mich von den Absencen heilen, unter denen ich förmlich zerfaserte, von der bodenlosen Pein, die mich befiel, sobald ich an Émilie dachte. Ich ertrug es nicht mehr, im selben Dorf wie sie zu leben, ihr auf der Straße zu begegnen und

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