Die Schuld des Tages an die Nacht
meiner Wege zu gehen, als ob nichts wäre, obwohl sie uneingeschränkt über meine Tage und Nächte herrschte. Jetzt, wo sie mich nicht mehr besuchen kam, erfasste ich das Ausmaß meiner Einsamkeit. Ich wusste, Émilie war tief gekränkt, aber was ließe sich dagegen tun? Sie würde mir auf keinen Fall vergeben, was auch immer geschähe. Sie war mir ja jetzt schon böse. Furchtbar böse. Ich glaube, sie hasste mich sogar. Ihr Blick fraß sich regelrecht in mich hinein, ich fühlte ihn bis in die letzte Windung meines Gehirns. Sie brauchte mich gar nicht anzusehen. Ohnehin vermied sie es, wo es nur ging, doch sie konnte sich noch so sehr für anderes interessieren, den Fußboden oder den Himmel fixie ren,ich spürte die Glut in der Tiefe ihrer Augenhöhlen, ähnlich der flüssigen Lava unter den Ozeanen, der weder Milliarden Tonnen Wasser noch abgrundtiefe Finsternis etwas anhaben können.
Ich aß gerade in einem kleinen Restaurant an der Meerespromenade von Oran zu Mittag, als plötzlich jemand von außen an die Scheibe klopfte. Es war Simon Benyamin in Wollmantel und dickem Schal und mit ersten Anzeichen einer Stirnglatze.
Er war außer sich vor Freude.
Ich sah ihn zur Eingangstür laufen, dann auf mich zusteuern, einen eisigen Luftzug im Gefolge.
»Komm«, sagte er, »ich nehm dich mit in ein richtiges Restaurant, wo der Fisch so zart ist wie ein Mädchenpopo.«
Ich erklärte ihm, dass ich fast fertig mit essen sei. Erst schmoll te er, dann zog er Mantel und Schal aus und setzte sich zu mir an den Tisch.
»Was gibt es denn in dieser Kaschemme zu essen?«
Er rief nach dem Ober, bestellte Lammspieße, grünen Salat und einen halben Liter Rotwein; dann rieb er sich die Hände in offenkundiger Hochstimmung und schoss los:
»Sag mal, machst du dich jetzt rar oder bist du sauer auf mich …? Neulich in Lourmel habe ich dir zugewinkt, und du hast nicht reagiert.«
»In Lourmel?«
»Na klar, letzten Donnerstag. Du kamst gerade aus der Reinigung.«
»In Lourmel gibt es eine Reinigung?«
Ich erinnerte mich nicht. Seit einiger Zeit stieg ich einfach in mein Auto und fuhr blindlings drauflos. Zweimal war ich auf diese Weise in Tlemcen gelandet, inmitten eines wimmelnden Souks, ohne zu wissen, wie oder warum es mich dorthin verschlagen hatte. Ich litt unter einer Art Schlafwandelei am helllichten Tag, die mich an unbekannte Orte führte. Wenn Germaine mich dann fragte, wo ich gewesen war, hatte ich das Gefühl,sie ziehe mich aus einem tiefen, gedächtnislosen Brunnen empor.
»Außerdem bist du mächtig abgemagert. Stimmt was nicht?«
»Das frag ich mich selber, Simon, glaub mir … Und du? Was ist mit dir?«
»Mir geht es sehr gut.«
»Und wieso drehst du dann den Kopf weg, wenn du mir auf der Straße begegnest?«
»Ich …? Warum sollte ich mich von meinem besten Freund abwenden?«
»Na ja, die Launen wechseln eben. Du hast dich seit über einem Jahr nicht bei mir gemeldet.«
»Das ist wegen der Geschäfte. Ich bin auf Erfolgskurs, aber die Konkurrenz ist grausam. Für jede Handbreit Terrain, die man ihnen entreißt, lässt man ein Stück seiner Haut. Ich bin viel öfter in Oran, um mich mit Rivalen und Geschäftshaien herumzuschlagen, als in Río. Was dachtest du denn? Dass ich mit gerümpfter Nase an dir vorübergehe?«
Ich tupfte mir die Lippen ab. Die Unterhaltung irritierte mich. Zu viele falsche Töne. Dieser Simon, der mir derart über den Mund fuhr, gefiel mir nicht. Das war nicht mein Simon, mein Spaßmacher, mein Vertrauter und Verbündeter. Sein neuer sozialer Status hatte ihn meinem altvertrauten Simon entfremdet. Vielleicht neidete ich ihm auch seinen Erfolg, sein blitzblankes neues Auto, das er gern auf dem Platz stehenließ, wo die Kinder es umschwärmten, seinen immer strahlenderen Teint und seinen zusehends schmaleren Bauch? Vielleicht war ich ihm böse, dass er sich mit Madame Cazenave zusammengetan hatte? … Falsch! Ich war derjenige, der sich verändert hatte. Jonas ging hinter Younes verloren. Meine Verbitterung gewann die Oberhand über meine Natur. Ich war bösartig geworden. Richtiggehend böse und gemein. Von einer unterdrückten Bosheit, die ich nie offen zeigte, die aber in mir rumorte wie eine Magenverstimmung. Ich ertrug keine Feste mehr, keine Hochzeiten, keine Bälle, keine Leute in Straßenca fés.Ich war allergisch gegen ihren naiven Frohsinn. Und ich hasste, ja, ich hasste Madame Cazenave. Ich hasste sie aus ganzem Herzen. Der Hass ist ein ätzendes Gift. Er zerfrisst dir
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