Die Schuld des Tages an die Nacht
ja«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Sag ja, und ich sage alles ab.«
Angst und Schrecken hatten ihrer Schönheit geschadet. Man hätte schwören können, sie sei nach langer schwerer Krankheit gerade erst aufgestanden. Ihr Haar lugte wirr unter dem Schleier hervor. Ihr Gesicht zuckte, und ihr verzweifelter Blick wusste nicht mehr, ob er lieber mich oder die Straße überwachen sollte. Ihre Schuhe waren staubweiß, ihr Kleid roch nach Weinlaub, ihr Hals glänzte vor Schweiß. Sie musste das ganze Dorf umrundet haben und dann querfeldein gelaufen sein, um bis zur Apotheke zu kommen, ohne die Neugier der Anwohner zu wecken.
»Younes, sag ja. Sag, dass du mich ebenso sehr liebst wie ich dich, dass ich für dich genauso zähle wie du für mich, nimm mich in deine Arme und halte mich fest bis ans Ende der Zeit. Younes, du bist das Schicksal, das ich erleben möchte, das Risiko, das ich eingehen möchte – ich bin bereit, dir bis ans Ende derWelt zu folgen! Ich liebe dich! Es gibt nichts und niemand auf der Welt, der mir wichtiger wäre als du! Um Himmels willen, sag ja …«
Ich sagte kein Wort. War sprachlos. Benommen. Wie erstarrt. Und grauenhaft stumm.
»Warum sagst du denn nichts?«
»…«
»Aber sag doch etwas, zum Teufel! Sprich … Sag ja, sag nein, aber steh nicht so da … Was hast du denn? Hast du die Stimme verloren? Quäl mich doch nicht so, sag etwas, verflixt noch mal!«
Ihr Ton wurde lauter. Sie hielt es nicht mehr aus. Ihre Pupillen flammten auf:
»Wie soll ich das verstehen, Younes? Was bedeutet dein Schweigen? Dass ich eine dumme Gans bin? Du bist ein Ungeheuer, ein Monster …«
Ihre Fäuste hämmerten in hilfloser Wut auf meine Brust ein.
»Du hast nicht einen Funken Menschlichkeit, Younes. Du bist das Schlimmste, was mir je passieren konnte.«
Sie schlug mir ins Gesicht, trommelte gegen meine Schultern und schrie wie besessen, um ihre Schluchzer zu übertönen. Ich war wie versteinert. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich schämte mich dafür, dass ich sie so leiden ließ, schämte mich, nur ein Hampelmann in einer Apotheke zu sein.
»Younes, ich verfluche dich. Das werde ich dir nie, nie, niemals verzeihen, niemals …«
Und sie flüchtete regelrecht aus der Apotheke.
Am nächsten Morgen brachte mir ein kleiner Junge ein Paket. Er sagte nicht, wer der Absender war. Ich wickelte das Paket so vorsichtig wie ein Feuerwerker aus. Etwas warnte mich vor dem, was ich darin finden würde. Ein Erdkundebuch war es, über die französischen Karibikinseln. Ich schlug den Deckel auf und stieß auf die Reste einer Rose, die so alt war wie die Welt: die Rose, die ich vor Millionen von Jahren in ebendiesem Buchversteckt hatte, während Germaine Émilie im Hinterzimmer ärztlich versorgte.
Am Abend, an dem die Verlobung gefeiert wurde, war ich bei Germaines Verwandten in Oran. Simon gegenüber, der Fabrice und mich unbedingt an seiner Seite haben wollte, schützte ich einen Todesfall vor.
Die Hochzeit fand wie vorgesehen zu Beginn der Weinlese statt. Diesmal bestand Simon mit allem Nachdruck darauf, dass ich in Río bleibe, was immer auch passiere. Er beauftragte Fabrice damit, mich im Auge zu behalten. Ich hatte nicht die Absicht zu desertieren. Ich hatte nicht zu desertieren. Das wäre lächerlich gewesen. Was sollten die Leute im Dorf, die Freunde und all die Neider denken? Wie konnte ich mich davonstehlen, ohne Verdacht zu erregen? Wäre es fair, Verdacht zu erregen? Simon konnte doch nichts dafür. Er hätte sich ein Bein für mich ausgerissen, so wie er sich für Fabrice’ Hochzeit ein Bein ausgerissen hatte. Wie sähe das aus, wenn ich ihm seinen glücklichsten Tag verderben würde?
Ich kaufte mir einen Anzug und neue Schuhe für die Zeremonie.
Als der Hochzeitskonvoi unter höllischem Gehupe durchs Dorf zog, schlüpfte ich in den neuen Anzug und machte mich zu Fuß zu dem großen weißen Haus an der Piste zum Marabout auf. Ein Nachbar hatte sich erboten, mich in seinem Wagen mitzunehmen; ich hatte dankend abgelehnt. Ich musste laufen, meine Schritte dem Rhythmus meiner Gedanken anpassen, die Dinge nach und nach bei klarem Verstand in Angriff nehmen.
Der Himmel war bedeckt, und ein frischer Wind fuhr mir schneidend ins Gesicht. Ich ließ das Dorf hinter mir liegen, ging am israelitischen Friedhofs entlang, bis ich die Piste erreichte, dort blieb ich stehen und schaute zur Festbeleuchtung hinüber.
Einleichter Nieselregen setzte ein, als wolle er mich zur Besinnung
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