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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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bringen.
    Man wird sich des Irreparablen erst bewusst, wenn es geschehen ist. Nie schien mir eine Nacht unter derart schlechtem Vorzeichen zu stehen, kam mir ein Fest so grausam und ungerecht vor. Die Musik, die zu mir herüberschallte, hatte einen geradezu magisch-beschwörenden Klang – mich beschwor sie, als wäre ich ein Dämon. Die Leute, die sich zu den Klängen des Orchesters amüsierten, schlossen mich aus ihrem Hochgefühl aus. Mir wurde klar, welch gewaltige Vergeudung mein Leben war … Warum? Warum schwebte mein Glück vor mir, zum Greifen nah, ohne dass ich es wagen durfte, ihm die Hand zu reichen? Was hatte ich so Furchtbares getan, dass ich nichts Besseres verdiente, als mit anzusehen, wie mir die schönste Geschichte der Welt durch die Finger rann, wie Blut aus einer Wunde rinnt? Was ist die Liebe, wenn sie nur den Schmerz gewährt? Was taugen ihre Mythen und Legenden, Siege und Wunder, wenn die Liebenden unfähig sind, über sich selbst hinauszuwachsen, dem Zorn des Himmels zu trotzen, die ewigen Freuden fahrenzulassen für einen Kuss, eine Umarmung, einen Moment der Nähe? Die Enttäuschung spritzte giftigen Seim in meine Adern, verschleimte mein Herz mit ekelhafter Wut … Ich ärgerte mich über mich selbst, kam mir vor wie überflüssiger Ballast, den man im Straßengraben zurückgelassen hat.
    Trunken vor Kummer schleppte ich mich nach Hause zurück, suchte Halt an den Mauern, um nicht zu stürzen. Mein armes Zimmer hatte Mühe, mich aufzunehmen. Halb ohnmächtig brach ich an der Tür zusammen, schloss die Augen, fühlte die Fasern in meinem Inneren reißen, stolperte dann zum Fenster. Das war nicht mein Zimmer, das war die Wüste, die ich durchquerte.
    Ein Blitz erhellte die Finsternis. Der Regen fiel sanft. Tränen flossen über das Fensterglas. Normalerweise sah ich keine Fensterscheiben weinen . Das war ein schlechtes Zeichen, das schlimmstevon allen. Ich sagte mir: Achtung, Younes, du zerfließt gleich vor Selbstmitleid. Na und? Sah ich nicht genau das: weinende Fensterscheiben? Ich wollte die Tränen auf dem Fensterglas sehen, wollte vor Selbstmitleid zerfließen, mir Gewalt antun, eins werden mit meiner Pein.
    Vielleicht ist es besser so, sagte ich mir wieder und wieder. Émilie war mir einfach nicht vorherbestimmt. So einfach ist das. Den Lauf dessen, was geschrieben steht, ändert man nicht … Unsinn! Später, sehr viel später, würde ich zu einer anderen Einsicht gelangen: Nichts steht geschrieben . Andernfalls hätte es keinen Sinn, Prozesse zu führen, wäre die Moral nur ein Popanz, gäbe es weder den Begriff der Schande noch die Vorstellung von Ehre. Gewiss gibt es Dinge, die uns übersteigen, aber in den meisten Fällen sind wir doch selbst unseres Unglücks Schmied. Wir basteln uns das Unrecht, unter dem wir leiden, mit eigenen Händen zurecht, und kein Mensch kann sich rühmen, weniger beklagenswert zu sein als sein Nachbar. Das, was wir Schicksal nennen, ist nur die Hartnäckigkeit, mit der wir uns weigern, zu den Folgen unserer kleinen oder großen Schwächen zu stehen.
    Germaine traf mich am Fenster an, die Nase gegen die Scheibe gepresst. Ausnahmsweise ließ sie mich in meinem Kummer ungestört. Sie verließ den Raum auf Zehenspitzen und schloss geräuschlos die Tür.

16 .
    ICH HATTE AN ALGIER GEDACHT . Oder Bougie. Oder Timimoun. Den nächstbesten Zug nehmen und nichts wie weg, nur weg von Río Salado. Ich hatte mir vorgestellt, wie es wäre, in Algier zu sein. Oder Bougie. Oder Timimoun. Doch kein einziges Mal hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, über die Boulevards zu schlen dern, auf einem Felsen zu sitzen und aufs Meer zu schauen oder in einer Grotte am Fuß eines Erg zu meditieren … Ich musste mit mir ins Reine kommen, da ich mir selbst nicht entfliehen konnte. Ich konnte alle Züge der Erde nehmen, alle Flugzeuge, alle Schiffe, ich schleppte doch immer nur dieses unbezähmbare Etwas mit mir herum, das in mir seine Galle verspritzte. Aber ich wollte mich dieser Verbitterung einfach nicht länger in einem Winkel meines Zimmers hingeben. Ich musste fort. Egal, wohin. Weit fort. Oder ins nächste Dorf. Das nahm sich nichts. Ich musste bloß woanders hin. Río Salado war kein Ort mehr zum Leben, seit Simon Émilie geheiratet hatte.
    Ich erinnerte mich an einen Verrückten mit wirrem Haar, der im Souk von Djenane Djato täglich Gottes Wort verkündete. Ein langer Kerl, dürr wie eine Bohnenstange, in einer alten, an der Taille mit einer Gardinenkordel gerafften

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