Die Schuld des Tages an die Nacht
Soutane. Er stand auf einem großen Stein und wetterte: »Das Unglück ist eine Sackgasse. Es führt geradewegs an die Wand. Wenn du da raus willst, geh rückwärts. Dann glaubst du, das Unglück weiche vor dir zurück, während du es fest im Blick hast.«
Alsofuhr ich nach Oran. In das schöne Viertel, in dem mein Onkel gewohnt hatte. Vielleicht wollte ich die Jahre bis zur Schule zurückspulen und von dort mit dem heutigen Wissen wieder in die Gegenwart, unbeschadet an Körper und Geist, mit noch unverbrauchten Chancen, wobei ich streng darauf achten würde, sie nicht zu verpatzen … Das Haus meines Onkels linderte kaum meinen Schmerz. So ganz in Grün gestrichen, war es mir fremd geworden, mit dem mehrfach gesicherten Tor, der nackten Gartenmauer, nunmehr ohne die Bougainvilleen, und den verschlossenen Fensterläden. Das Echo meiner Kinderrufe war längst verhallt …
Ich klopfte an die Haustür gegenüber. Keine Lucette im Türrahmen. »Sie ist umgezogen«, erklärte die fremde Frau. »Nein, eine Anschrift hat sie nicht hinterlassen.«
Pech auf der ganzen Linie!
Ich irrte durch die Stadt. Aus einem Fußballstadion drang Schlachtenlärm. Doch das Getöse in meinem Inneren vermochte er nicht zu übertönen. In M’dina J’dida, dem »Negerdorf«, in dem die zusammengepferchten Araber und Kabylen von hellerer Hautfarbe waren als selbst die Weißen, ließ ich mich in einem Straßencafé nieder und wurde nicht müde, die über die Tahtaha-Esplanade strömenden Massen zu beobachten, in der Gewissheit, früher oder später das Phantom meines Vaters in seiner grünen Filzjacke vorüberziehen zu sehen … Weiße Burnusse vermischten sich mit den Lumpen der Bettler. Eine Welt war dabei, in ihrer jahrhundertealten Unverfälschtheit mitsamt ihren Bazaren, ihren Badestuben, ihren winzigen Lädchen, in denen Goldschmiede, Schuster und ausgemergelte Schneider ihren Berufen nachgingen, neu zu erstehen. Im Schutz ihrer Moscheen und maurischen Befestigungen hatte sie alles Elend und jeden Angriff überstanden, zeigte sich tapfer und würdig, schön und ansehnlich trotz der allenthalben gärenden Wut, voller Stolz auf ihre Handwerker, ihre Folkloretruppen, wie die S’hab el Baroud , ihre Raqba , die »Wackeren«, muskelbewehrte respektable Kerle, oder auch ihre »Eh renbanditen«,örtliche Robin Hoods mit Abenteurercharme, welche die jungen Burschen und die Freudenmädchen entzückten und für die Sicherheit der kleinen Leute im Viertel sorgten. Wie hatte ich so lange auf diesen Teil meiner selbst verzichten können? Ich hätte regelmäßig hierherkommen sollen, um meine Risse zu kitten und meine Überzeugungen zu festigen. Welche Sprache sollte ich mir zu eigen machen, jetzt, da Río nicht mehr zu mir sprach? Ich stellte fest, dass ich mir von Anfang an etwas vorgemacht hatte. Wer war ich denn eigentlich in Río? Jonas oder Younes? Wie kam es, dass mir das Lachen oft im Hals steckenblieb, während meine Kameraden sich ungeniert amüsierten? Warum meinte ich immer, mir den Platz zwischen meinen Freunden erst erobern zu müssen, und warum fühlte ich mich schuldig, wenn Djellouls Blick den meinen traf? Wurde ich toleriert, integriert, gezähmt? Was hinderte mich, ganz ich selbst zu sein, die Welt, in der ich lebte, zu verkörpern, mich mit ihr zu identifizieren, während ich den Meinen den Rücken zuwandte? Ein Schatten. Der Schatten war ich, ewig zaudernd und viel zu dünnhäutig, immer eines Vorwurfs, einer versteckten Andeutung gewärtig, die ich mir mitunter auch nur einbildete, ganz das Waisenkind in seiner Gastfamilie, das gelegentliche Schnitzer der Adoptiveltern sehr viel aufmerksamer registriert als ihre Fürsorge und Zärtlichkeit. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, ob ich, wenn ich nun versuchte, mich in den Augen M’dina J’didas reinzuwaschen, mich vielleicht nur vor der eigenen Verantwortung drückte und versuchte, den anderen meine Schuld in die Schuhe zu schieben? Wer war denn schuld, dass Émilie mir entglitten war? Río Salado? Madame Cazenave? Jean-Christophe? Oder Simon? Heute glaube ich, mein Fehler bestand darin, dass ich nicht den Mut hatte, zu meinen Überzeugungen zu stehen. Ich konnte mir alle Entschuldigungen der Welt ausdenken, keine einzige würde zutreffen. In Wahrheit suchte ich nun, da ich das Gesicht verloren hatte, nach einer Maske. Verbarg mich, als sei ich völlig entstellt, hinter meiner Mullbinde undblickte durch ein Gazefenster auf die Welt. Betrachtete im Verborgenen die Wahrheit
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