Die Schuld des Tages an die Nacht
angezogen hatte, sein weißes Hemd mitsamt Fliege, seine Weste mitsamt goldener Taschenuhr, seine spitzen schwarzen Halbschuhe und einen Fes, den er erst kürzlich in einem alten türkischen Laden in Tlemcen erstanden hatte.
»Ich möchte dem Grab des Patriarchen einen Besuch abstatten«, erklärte er mir.
Da ich keine Ahnung hatte, wo sich das Grab des Patriarchen befand, lotste mich mein Onkel über Weiler und Pisten. Wir fuhren den ganzen Vormittag, ohne einmal anzuhalten, um zu rasten oder uns zu stärken. Germaine, die den Benzingeruch nicht vertrug, war grün vor Übelkeit, und die endlosen Kurven bergab und bergauf gaben ihr fast den Rest. Spät am Nachmittag kamen wir auf einer felsigen Bergkuppe an. In der Tiefe widerstand die Ebene mit ihren Ölbaumplantagen tapfer der Dürre. Hier und da fiel die Erde bereits der Erosion zum Opfer, und die Macchia-Landschaft verkarstete zusehends. Ein paar Wasserreservoirs hielten dagegen, aber es war offensichtlich, dass die Trockenheit sie bis zur Neige leeren würde. Einige Schafherden weideten am Fuß der Hügel im selben Abstand voneinander,den die staubigen Weiler aufwiesen. Mein Onkel hielt die Hand über die Augen und ließ den Blick durch die Ferne schweifen. Offensichtlich entsprach hier nichts mehr seiner Erinnerung. Er erklomm einen Steilpfad voller Geröll, der zu einer Art Hain führte, in dessen Mitte eine Ruine vor sich hin bröckelte. Es waren die Reste eines Marabouts oder Mausoleums, das einem anderen Zeitalter entstammte und dem die harten Winter und die glühende Sommerhitze gewaltig zugesetzt hatten. Im Schutz eines Mäuerchens, das in seinen eigenen Trümmern feststeckte, wimmelte ein verblichenes Grab von Eidechsen. Das war das Grabmal des Patriarchen. Mein Onkel war betrübt, es in einem solch beklagenswerten Zustand vorzufinden. Er hob einen kleinen Querbalken auf, lehnte ihn an eine Stampflehmmauer und betrachtete ihn mit unendlicher Traurigkeit, dann schob er andächtig eine wurmstichige Holztür auf und betrat das Heiligtum. Ich wartete mit Germaine im kleinen, von Dornengestrüpp überwucherten Innenhof. Beide schwiegen wir. Derweil mein Onkel am Grab des Patriarchen die Zeit vergaß, setzte sich Germaine auf einen Felsen und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hatte, seit wir Río verlassen hatten, noch nicht ein Wort gesagt. Wenn Germaine sich so still verhielt, war das Schlimmste zu befürchten.
Mein Onkel kam erst zurück, als die Sonne schon unterging. Der Marabout warf bereits einen langen Schatten, und im Gebüsch hatte eine kühle Brise zu rascheln begonnen.
»Lasst uns nach Hause fahren«, sagte mein Onkel und ging zum Wagen.
Ich hatte gedacht, er würde vom Patriarchen erzählen, vom Stamm, von Lalla Fatna, von den Gründen, die ihn so plötzlich bewegt hatten, auf diesen windzerklüfteten Berg zu kommen; nichts dergleichen. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz und ließ die Straße fortan nicht mehr aus dem Blick. Wir fuhren die halbe Nacht über. Germaine war auf dem Rücksitz eingenickt. Mein Onkel rührte sich nicht. Er war weit weg, tief in Gedanken versunken. Wir hatten seit dem Morgen keinen Bissen zu unsgenommen; er hatte es noch nicht einmal bemerkt. Mir fiel auf, dass sein Gesicht fahler wirkte, seine Wangen eingefallen waren. Und dass sein Blick mich an jenen erinnerte, hinter dem er sich früher verschanzte, wenn er ohne Vorwarnung in seine Parallelwelt eintauchte, die ihm jahrelang Asyl und Gefängnis war.
»Er macht mir Angst«, beichtete mir Germaine einige Wochen später.
Mein Onkel machte nicht den Eindruck, als hätte er einen Rückfall erlitten. Er fuhr fort zu lesen und zu schreiben, zu den Mahlzeiten bei Tisch zu erscheinen und jeden Morgen in den Weingärten spazieren zu gehen, nur sprach er nicht mehr mit uns. Er nickte, lächelte auch zuweilen, um Germaine zu danken, wenn sie ihm seinen Tee brachte oder eine Falte seiner Jacke glattstrich, aber er sagte kein Wort. Oder er nahm im Schaukelstuhl auf dem Balkon Platz und betrachtete die Hügel, bis es Abend wurde; dann ging er auf sein Zimmer, zog sich Bademantel und Pantoffeln an und schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein.
Eines Nachts streckte er sich auf seinem Bett aus und verlangte mich zu sehen. Er war blass wie Marmor, und die Hand, mit der er nach meinem Handgelenk griff, nahezu eiskalt.
»Wie gern hätte ich deine Kinder kennengelernt, mein Junge. Sie hätten mein Herz mit Freude erfüllt. Nie ist ein kleines Kind auf meinem Schoß
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