Die Schuld des Tages an die Nacht
nüchtern. Es kam schon mal vor, dass ich die Geduld verlor, wenn ich das ärztliche Gekritzel auf den Rezepten nicht gleich entziffern konnte, oder es nicht ertrug, wenn Germaine mir die ewig gleichen Fragen stellte und zum zigsten Mal meine Augenringe beklagte oder meine Verschlossenheit. Doch ich knurrte nur kurz, nahm mich gleich wieder zusammen und entschuldigte mich. Abends nach Ladenschluss ging ich aus, um mir die Beine zu vertreten. Ich bummelte über den Dorfplatz und sah Bruno, dem jungen Polizisten, zu, wie er umherstolzierte und sich die Kordel seiner Trillerpfeife ein ums andere Mal um den Finger wickelte. Ich mochte seinen gelassenen Diensteifer, die leicht schräg aufgesetzte Mütze, die theatralische Höflichkeit, in der er sich erging, wenn junge Mädchen vorüberkamen. Ich nahm im Straßencafé Platz, hielt mich an meiner Zitronade mit üppig Kristallzucker fest und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit, um nach Hause zu gehen. Manchmal machte ich mich auch in die Weinfelder auf und vergaß darüber die Welt. Ich war nicht eigentlich unglücklich, es fehlte mir eher an Gesellschaft. Andrés Rückkehr aus Amerika hatte die Snackbar mit neuem Leben erfüllt, doch das Billardspielen ermüdete mich: José schlug mich regelmäßig … Germaine erwog, mich zu verheiraten. Sie lud etliche ihrer zahllosen Nichten nach Río Salado ein, in der Hoffnung, die eine oder andere möge einen bleibenden Eindruck auf mich machen, doch bevor ich es überhaupt mitbekam, waren sie schon wieder abgereist.
Ab und zu sah ich Simon. Wir sagten uns hallo, winkten uns zu, setzten uns manchmal ein paar Minuten bei einem Erfri schungsgetränkzusammen und plauderten über belanglose Dinge. Anfangs war er mir noch böse, seine Hochzeit »geschwänzt« zu haben wie eine langweilige Unterrichtsstunde. Mit der Zeit verzieh er mir, vermutlich weil er Wichtigeres zu tun hatte. Simon lebte bei Émilie in dem großen Haus an der Piste zum Marabout. Madame Cazenave hatte darauf bestanden. Außerdem gab es im Dorf keine leerstehenden Häuser, und jenes der Familie Benyamin war klein und ohne Annehmlichkeiten.
Fabrice wurde zum zweiten Mal Vater. Das glückliche Ereignis brachte uns – mit Ausnahme von Jean-Christophe, der seit seinem Brief an Simon kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte – in einer schönen Villa an der Küstenstraße vor Oran zusammen. André stellte uns bei der Gelegenheit seine Cousine und Gattin vor, eine robuste Andalusierin aus Granada, groß wie ein Turm, mit einem schönen kräftigen Gesicht, aus dem zwei prachtvoll grüne Augen strahlten. Sie hatte Humor, verstand aber keinen Spaß, wenn es darum ging, ihrem Mann Manieren beizubringen. Im Lauf dieses Abends merkte ich, dass Émilie ein Kind erwartete.
Einige Monate danach brach Madame Cazenave nach Guyane auf, wo das Skelett ihres Mannes – ehedem Leiter des Straflagers von Saint-Laurent-du-Maroni, der bei der Verfolgung entflohener Sträflinge spurlos im tropischen Regenwald verschwunden war – von Schmugglern gefunden und dank der bei ihm gefundenen Gegenstände identifiziert worden war. Sie kam nie wieder nach Río zurück. Nicht einmal zur Geburt ihres Enkelsohnes Michel.
Im Sommer 1953 lernte ich Djamila kennen, die Tochter eines muslimischen Anwalts, Freund meines Onkels aus Studienzeiten. Wir hatten uns zufällig in einem Restaurant in Nemours getroffen. Djamila war keine Schönheit, aber sie erinnerte mich an Lucette. Ich mochte ihren ruhigen Blick und ihre feinen weißen Hände, die mit den Dingen – Serviette, Löffel, Taschentuch, Handtasche, einer Frucht – so behutsam umgin gen,als handele es sich um Reliquien. Sie hatte kluge schwarze Augen, einen winzigen, runden Mund und einen Ernst, der eine strenge, aber moderne Erziehung verriet, die der Welt und ihren Herausforderungen zugewandt war. Sie studierte Jura und wollte Anwältin werden wie ihr Vater. Sie schrieb mir als Erste: einen Kartengruß aus der Oase Bou Saâda, wo ihr Vater seine Kanzlei hatte. Ich brauchte Monate, um ihr zu antworten. Wir tauschten jahrelang Briefe und Glückwunschkarten aus, ohne dass einer von uns den Rahmen des Schicklichen überschritt und dem anderen offenbarte, was Schamgefühl oder übertriebene Vorsicht verschwiegen.
Am ersten Frühlingstag des Jahres 1954 bat mich mein Onkel, den Wagen aus der Garage zu holen. Er trug den grünen Anzug, den er seit dem Abendessen, das er vor dreizehn Jahren zu Ehren von Messali Hadj gegeben hatte, nicht mehr
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