Die Schuld des Tages an die Nacht
einfach nicht wahrhaben wollen. Da Sie nicht zu teilen bereit sind, nehmen Sie Ihre Plantagen und Ihre Brücken, Ihren Asphalt und Ihre Schienen, Ihre Städte und Ihre Gärten, und geben Sie den Rest dem rechtmäßigen Besitzer zurück.«
»Jonas, du bist ein intelligenter Junge«, entgegnete er, nicht im Mindesten beeindruckt. »Du bist am richtigen Platz erzogen worden, bleib dort. Die Fellagas sind keine Baumeister. Man könnte ihnen das Paradies anvertrauen, selbst das würden sie noch als Ruine hinterlassen. Sie bringen deinem Volk nichts als Unglück und Enttäuschung.«
»Sie sollten einmal einen Blick auf die Weiler ringsum werfen, Monsieur Sosa. Dort wütet das Unglück erst, seitdem Sie freie Menschen erniedrigen – zu Arbeitstieren!«
Damit ließ ich ihn stehen und lief zu meinem Wagen zurück. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Krug, durch den der Wind pfeift.
17 .
JEAN-CHRISTOPHE TAUCHTE IM FRÜHJAHR 1957 wieder auf. Ohne Vorwarnung. Der Polizist Bruno teilte es mir auf der Schwelle zum Postamt mit:
»Na, große Wiedersehensfreude?«
»Was für eine Wiedersehensfreude?«
»Wie? Weißt du das gar nicht? Chris ist seit zwei Tagen wieder zu Hause …«
Seit zwei Tagen? Jean-Christophe war seit zwei Tagen in Río Salado, und das hatte mir niemand gesagt? Ich hatte Simon erst am Abend zuvor getroffen. Wir hatten sogar ein paar Worte gewechselt. Warum hatte er mir nichts gesagt?
Zurück in der Apotheke, rief ich Simon in seinem Büro an, das nur zwei Schritte von der Post entfernt war. Ich weiß nicht, warum ich es vorzog, ihn anzurufen, statt kurz bei ihm vorbeizuschauen. Vielleicht hatte ich Angst, ihn in Verlegenheit zu bringen, oder in seinen Augen etwas zu lesen, das ich schon ahnte: dass Jean-Christophe noch immer böse auf mich war und mich auf keinen Fall sehen wollte.
Simons Stimme am anderen Ende der Leitung klang recht zaghaft:
»Ich dachte, du wärst auf dem Laufenden.«
»Scherzkeks!«
»Ich schwör dir, das ist die Wahrheit.«
»Hat er dir was gesagt?«
Simon räusperte sich verlegen.
»Ichweiß nicht, was du meinst …«
»Okay, ich hab schon verstanden.«
Und ich hängte ein.
Germaine, die gerade vom Markt zurückkam, stellte ihren Korb am Boden ab und sah mich schief an.
»Wer war das denn am Telefon?«
»Nur ein Kunde, der sich beschweren wollte«, beruhigte ich sie.
Sie nahm ihren Einkaufskorb und stieg die Treppe hinauf. Auf halber Höhe verharrte sie zwei Sekunden, machte dann kehrt, kam ein paar Stufen zurück und musterte mich prüfend.
»Was verheimlichst du mir, hm?«
»Nichts.«
»Das sagst du … Ach übrigens, ich habe Bernadette zum Ball eingeladen. Ich hoffe, du wirst sie nicht auch noch enttäuschen. Sie ist ein ordentliches Mädchen. Sie ist sehr aufgeweckt, auch wenn sie nicht danach aussieht. Gewiss, es fehlt ihr an Bildung, aber du findest weit und breit keine bessere Hausfrau als sie. Außerdem ist sie hübsch!«
Bernadette … Ich hatte sie kennengelernt, als sie ein putziges kleines Ding war, damals, bei der Bestattung ihres Vaters, der beim Angriff auf die Marinebasis von Mers el-Kébir im Jahr 1940 ums Leben gekommen war. Ein zartes Mädelchen mit fliegenden Zöpfen, das sich immer abseits hielt, während seine Cousinen mit ihren Hula-Hoop-Reifen spielten.
»Du weißt doch, dass ich nicht mehr auf Bälle gehe.«
»Eben darum.«
Und sie verschwand nach oben.
Simon rief zurück. Er hatte sich inzwischen gefangen.
»Was war denn los, Jonas?«
»Ich finde es seltsam, dass du mir verschwiegen hast, dass Chris wieder da ist. Ich dachte immer, unsere Freundschaft sei unverbrüchlich.«
»Ist sie ja auch. Sie ist so vital wie am ersten Tag. Du bedeutest mir nach wie vor sehr viel. Momentan lässt mir die Arbeit einfachkeine Verschnaufpause, aber ich denke viel an dich. Du bist derjenige, der auf Abstand geht. Du hast mich kein einziges Mal zu Hause besucht. Hast es immer eilig, wieder wegzukommen, wenn unsere Wege sich kreuzen. Ich weiß nicht, was du dir in den Kopf gesetzt hast, aber ich, ich habe mich kein bisschen verändert. Was Chris anbelangt, ich schwöre dir, ich dachte, du wüsstest das schon. Ich war sowieso nur ganz kurz bei ihm und hab ihn gleich wieder seiner Familie überlassen. Falls es dich beruhigt: Fabrice weiß es auch noch nicht. Den muss ich nachher anrufen, um ihm die frohe Kunde zu überbringen. Und dann könnten wir uns doch alle vier wie in alten Zeiten treffen. Ich habe an ein Essen an der Küstenstraße gedacht.
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