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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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meines Lebens, höre ich ab und zu die Hupen ihres Konvois, und stets durchfährt mich derselbe Schmerz wie an jenem Tag. Dennoch war ich komischerweise erleichtert über ihren Weggang; es war, als hätte sich bei mir eine lang verstopfte Ader wieder befreit.
    Río entvölkerte sich zusehends. Wohin ich auch blickte, ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger auf hoher See. Die Straßen und Obstplantagen, das Stimmengewirr in den Cafés und die Witze der Dorfbewohner, die immer eine Pointe hinterherhinkten, das alles sagte mir nichts mehr. Morgens konnte ich es kaum erwarten, dass es endlich Nacht wurde, um mich vor dem Chaos meines Alltags zu retten; abends in meinem Bett graute mir schon immer davor, von so viel Leere und Abwesenheit umgeben wieder aufzuwachen. Immer öfter vertraute ich Germaine die Apotheke an und verzog mich ins Bordell nach Oran, ohne eine einzige Prostituierte anzurühren. Es reichte mir, ihnen zuzuhören, wenn sie von ihrem bewegten Leben erzählten und ihren verpufften Träumen dabei keine Träne nachweinten. Dass sie für Illusionen so wenig übrig hatten, war mir ein Trost. Doch eigentlich suchte ich nach Hadda. Sie war mir auf einmal wichtig geworden. Ich wollte sie wiederfinden, wollte wissen, ob sie sich noch an mich erinnerte, mir irgendwie behilflich sein konnte, meine Mutter aufzufinden – und schon wieder war ich nicht ehrlich zu mir selbst: Hadda hatte Djenane Djato noch vor der Tragödie im Patio verlassen, und hätte mir gar nicht helfen können. Dennoch wollte ich sie mit diesem Vorwand mild stimmen. Ich brauchte einfach einen Menschen, einen Vertrauten oder eine alte Bekanntschaft, bei der ich an ein vages Gefühl der Verbundenheit anknüpfen konnte, um eine Beziehung aufzubauen, da jene zu den Freunden aus Río mehr und mehr schwand … Die Inhaberin des Camélia ließ durch blicken, Hadda sei eines Nachts mit einem Zuhälter verschwunden und nie mehr aufgetaucht. Besagter Zuhälter war ein brutaler Kerl, dessen behaarte Arme mit Flüchen und dolchdurchbohrtenHerzen tätowiert waren. Er riet mir, die Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, wenn ich nicht in der Rubrik »Vermischtes« des Lokalblatts als vermisst auftauchen wollte …
    Am gleichen Tag schien mir, ich hätte beim Aussteigen aus der Trambahn Lucette, meine einstige Schulfreundin, wiedererkannt, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Eine junge Dame, leicht rundlich, elegant, in tailliertem Kostüm, mit weißem Leinenhut. Es war gewiss nicht Lucette, denn die hätte mein Lächeln einzuordnen gewusst, hätte im Blau meiner Augen einen vertrauten Anlandesteg entdeckt. Trotz der beredten Gleichgültigkeit der Fremden bin ich ihr über den ganzen Boulevard gefolgt, bevor ich umkehrte, mir der Unziemlichkeit meines Beschattungsmanövers durchaus bewusst.
    Und dann bin ich dem Krieg begegnet … dem Krieg im Großformat: dem lüsternen Dämon des Todes, der fruchtbaren Konkubine des Unglücks, jener anderen Realität, der ich nicht ins Antlitz blicken wollte. Die Zeitungen brachten seitenlange Auflistungen der Attentate, die die Städte und Dörfer erschütterten, der Überfälle auf verdächtige Douars, der Massenabwanderungen und blutigen Zusammenstöße, der Razzien und Massaker. Für mich war das alles Fiktion, ein obskurer Fortsetzungsroman, der nicht enden wollte … Und eines Tages, während ich an der Meerespromenade in Oran friedlich meinen Orangensaft trank, stoppte vor einem Gebäude jäh eine Limousine, schwarz wie ein Leichenwagen, und aus den Türen spritzten Feuersalven. Die Feuerstöße dauerten nur wenige Sekunden, wurden alsbald vom Quietschen der Reifen überdeckt; doch in meinem Kopf hallten sie noch lange nach. Tote blieben auf dem Gehweg zurück, während Passanten eiligst in alle Richtungen auseinanderstoben. Eine solche Stille trat ein, dass die Schreie der Möwen sich in meine Schläfen bohrten. Ich starrte auf die niedergemähten Körper und begann unaufhörlich zu zittern. Der Orangensaft in meiner Hand schwappte über; das Glas entglitt mir und zerschellte zu meinen Füßen, entrissdem Mann am Nebentisch ein unbändiges Gebrüll. Menschen strömten wie Schlafwandler aus Häusern, Geschäften, Fahrzeugen, näherten sich vorsichtig, benommen, betäubt dem Tatort. Eine Frau fiel am Arm ihres Begleiters in Ohnmacht. Ich wagte nicht, auch nur einen Finger zu rühren, saß wie versteinert auf meinem Stuhl, mit offenem Mund und rasendem Herzen. Pfiffe kündeten von der Ankunft der

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