Die Schuld des Tages an die Nacht
Herumlavieren nicht, und ich kam wieder auf den Kern der Sache zu sprechen, von einem Groll getrieben, der so hartnäckig war und so schmerzhaft wie ein Juckreiz.
»Ihr wart gestern Abend alle miteinander bei ihm.«
»Ja schon …«, lächelte er gequält.
Dann beugte er sich vor, damit ihm nicht die leiseste Regung in meinem Gesicht entging:
»Was ist denn bloß zwischen euch vorgefallen?«
»Ich weiß nicht.«
»Also hör mal, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir das abnehme? Er ist doch wegen dir abgehauen, oder nicht? Er ist wegen dir zur Armee gegangen, hat wegen dir in Kauf genommen, von den Schlitzaugen verhackstückt zu werden, oder nicht …?Was um alles in der Welt ist zwischen euch gewesen? Ich habe die ganze Nacht vor lauter Grübeln kein Auge zugemacht. Ich habe zig Hypothesen durchgespielt, bin aber zu keinem Ergebnis gekommen …«
»Du hast wieder einmal recht, Simon. Lassen wir einfach ein wenig Zeit ins Land gehen. Die Zeit hält ihre Zunge nicht im Zaum. Eines Tages wird sie es uns schon verraten.«
»Ist es wegen Isabelle?«
»Simon! Bitte! Lass gut sein.«
Ich sah Jean-Christophe Ende der Woche wieder. Von weitem. Ich kam gerade vom Schuster, er aus dem Rathaus. Er war so mager, dass es schien, als sei er noch zwanzig Zentimeter in die Höhe geschossen. Sein Haar war an den Schläfen abrasiert, nur eine blonde Strähne wippte über der Nase. Er trug einen Mantel, der nicht zur Jahreszeit passte, und humpelte ein wenig, gestützt auf einen Stock. An seinem Arm hing Isabelle. Mir schien, sie war so schön und ernsthaft wie noch nie. Von einer Demut, der fast schon Bewunderung gebührte. Die beiden gingen friedlich plaudernd über den Platz, das heißt, Isabelle redete, und er nickte zustimmend. Sie strahlten ein gelassenes Glück aus, das so hart erkämpft wie dauerhaft schien. Mir gefiel das Bild, das sie an jenem Tag als Paar abgaben. Ein Paar, das herangereift war, in wehmütigem Sehnen, banger Selbstbefragung, und sich endlich gefunden hatte, gewachsen an den bestandenen Hürden. Ich weiß nicht, warum ich den Impuls verspürte, ihnen in Gedanken Mut zuzusprechen, auf dass ihre Verbindung nun für alle Zeiten besiegelt sei. Vielleicht, weil sie mich an Germaine und meinen Onkel erinnerten, wenn diese Arm in Arm durch die Plantagen spazierten. Ich war jedenfalls glücklich, sie wieder vereint zu sehen, als würde dadurch alles Gewesene gelöscht. Ich merkte, dass ich gar nicht anders konnte, als weiterhin zärtliche Zuneigung für beide zu empfinden. Gleichzeitig überkam mich ein Gefühl tiefer Trauer, wie damals, beim Tode meines Onkels, und mit tränenblindem Blickverfluchte ich Jean-Christophe dafür, dass er wieder auf den Zug des Lebens aufsprang und mich wie einen Fremden einfach stehenließ. Ich fühlte mich völlig willkürlich von ihm verstoßen, und mir war, als würde ich das nicht heil überstehen, es ihm noch lange nachtragen und mich außerstande fühlen, ihn in die Arme zu schließen, wenn er einst käme, mir zu verzeihen … Mir verzeihen? Wieso denn überhaupt? Was hatte ich mir schon zuschulden kommen lassen? Mir schien, ich hatte meine Loyalität teuer genug bezahlt und mir selbst den größten Schaden zugefügt … Es war schon seltsam. In mir waren Liebe und Hass in einem Säckel, gleichsam gefangen in derselben Zwangsjacke. Ich glitt in einen namenlosen Zustand über, alles zerrte und zog an mir, trübte meinen Verstand, meine Sicht und verdrehte jede Faser meines Ichs, ähnlich mochte es dem Werwolf ergehen, der im Schutz der Nacht zu seiner monströsen Natur erwacht. Ich war wütend – in mir schwelte eine dumpfe, tückische, ätzende Wut. Ich war neidisch. Auf all die anderen, die dabei waren, sich in ihrem alten Leben häuslich einzurichten, während meine Welt zusehends zerfiel. Ich war neidisch, wenn Simon und Émilie auf der Straße mit ihrem Sprössling, der vor ihnen hersprang, vorbeispazierten, neidisch auf die einvernehmlichen Blicke, die sie, wie mir schien, auf meine Kosten tauschten; neidisch auf die Aura, die Jean-Christophe und Isabelle umfing, dieses Paar, das seiner Erlösung entgegenging; ich hatte überhaupt einen Groll auf sämtliche Paare, die ich in Río, Lourmel, Oran oder wo auch immer auf den Straßen antraf, durch die ich ziellos fuhr – einem gefallenen Gott auf der Suche nach seinem Kosmos gleich, der plötzlich merkt, dass ihm die Berufung abhandengekommen ist, sich seine Welt nach eigenem Willen, eigener Vorstellung neu zu
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