Die Schuld des Tages an die Nacht
Weißt du, ich kenne da ein hervorragendes Bistro in Aïn Turck. Was meinst du …?«
Er log. Er sprach viel zu schnell, ratterte seinen Text herunter, als hätte er ihn auswendig gelernt. Dennoch gewährte ich ihm die Gunst des Zweifels – vielleicht irrte ich mich ja doch? Um mir seine Aufrichtigkeit zu beweisen, versprach er, mich nach der Arbeit abzuholen, um mit mir zu den Lamys zu gehen.
Ich wartete den ganzen Tag; er tauchte nicht auf. Ich machte den Laden dicht und wartete weiter. Die Nacht überraschte mich, während ich auf den Stufen vor der Apotheke saß und nach den Gestalten in der Ferne spähte, in der Hoffnung, er wäre dabei. Doch er kam nicht. Da beschloss ich, alleine zu Jean-Christophe zu gehen … Das hätte ich besser nicht getan. Denn Simons Wagen war vor der Haustür der Lamys geparkt; unter einer Lawine von Mimosenblüten stand er neben anderen Autos, dem von André, dem des Bürgermeisters, dem des Lebensmittelhändlers und etlicher anderer. Ich kochte vor Wut. Etwas flüsterte mir zu, umzukehren, doch ich hörte nicht darauf, klingelte an der Haustür. Irgendwo knarrte ein Fensterladen, der geschlossen wurde. Es dauerte eine Ewigkeit, bis jemand öffnen kam. Eine Unbekannte, vermutlich eine Verwandte von außerhalb, sah mich fragend an.
»Ichbin Jonas, ein Freund von Chris.«
»Es tut mir leid, aber er schläft.«
Mein erster Impuls war, sie zur Seite zu schieben und ins Wohnzimmer zu stürmen, wo sie jetzt alle wohl saßen und den Atem anhielten, all die Freunde und Verwandten rings um Jean-Christophe. Doch ich tat nichts dergleichen. Es gab nichts zu tun. Alles war klar, völlig klar … Ich nickte, tat einen Schritt zurück, wartete, bis die Unbekannte die Haustür wieder geschlossen hatte, und ging heim … Germaine ließ mich ausnahmsweise in Ruhe, wofür ich ihr sehr dankbar war.
Am nächsten Morgen tauchte Simon mit zerknirschter Miene bei mir auf und stammelte:
»Ich versichere dir, ich verstehe das alles nicht.«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Er will mich nicht sehen, fertig. Und du wusstest es von Anfang an. Deshalb hast du mir vorgestern nichts gesagt, als wir uns getroffen haben.«
»Ja, das stimmt, ich wusste es. Das war übrigens das Erste, was er von mir verlangte. Er hat mir praktisch verboten, deinen Namen zu erwähnen. Er hat mir sogar aufgetragen, dir klarzumachen, dass er nicht will, dass du zu seiner Begrüßung kommst. Ich habe da natürlich nicht mitgemacht.«
Er hob die kleine Klappe seitlich am Tresen hoch und kam zu mir hinter den Ladentisch. Auf seiner Stirn perlte der Schweiß. Seine Glatze glänzte im Licht, das durch das Fenster einfiel.
»Du darfst ihm das nicht verübeln. Er hat furchtbare Dinge erlebt. Er war in Indochina, an vorderster Front. Wurde gefangen genommen. Zweimal verletzt. Als er aus dem Krankenhaus kam, haben sie ihn entlassen. Er braucht einfach ein bisschen Zeit.«
»Schon gut, Simon.«
»Ich sollte dich gestern doch abholen kommen. Wie versprochen.«
»Ich habe auch auf dich gewartet.«
»Ich weiß. Ich bin aber erst zu ihm hin … um ihn umzustimmen, damit er dich empfängt. Kannst du dir ja denken, dass ich dichnicht einfach so zu ihm mitnehme. Er hätte übel reagiert, und das hätte alles noch viel schlimmer gemacht.«
»Du hast recht, man sollte ihn zu nichts zwingen.«
»Das ist es nicht. Er ist einfach unberechenbar. Er hat sich sehr verändert. Selbst mir gegenüber ist er anders als sonst. Als ich ihn nach Hause einladen wollte, um ihm Émilie und den Sohnemann vorzustellen, hat er reagiert, als hätte ich ihm etwas Unsittliches angetragen. ›Nie im Leben!‹, hat er gebrüllt. ›Nie im Leben!‹ Stell dir mal vor! Wenn ich ihm vorgeschlagen hätte, in die Hölle zurückzukehren, hätte er nicht ablehnender reagieren können. Ich hab das nicht kapiert. Vielleicht kommt das durch den Krieg, den er da unten mitgemacht hat. Eine Schweinerei, so ein Krieg. Manchmal, wenn ich ihn mir so besehe, habe ich den Eindruck, dass Chris nicht mehr richtig tickt. Du müsstest mal seine Augen sehen, die sind so leer wie der Doppellauf einer Flinte. Er tut mir in der Seele leid. Wir dürfen ihm nicht böse sein, Jonas. Wir müssen uns in Geduld üben.«
Da ich nichts erwiderte, wechselte er die Taktik:
»Ich habe bei Fabrice angerufen. Hélène sagte mir, er sei in Algier, wegen der Ereignisse in der Casbah. Sie wusste nicht, wann er zurückkommt. Vielleicht hat Chris ja bis dahin seine Meinung geändert.«
Mir gefiel sein
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