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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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erfinden.
    Zu meiner Verblüffung ertappte ich mich an meinen freien Tagen, wie ich kreuz und quer durch Orans muslimische Viertel streifte, mich zu wildfremden Menschen an den Tisch setzte, deren Nähe meine Einsamkeit aufhob. Ich war des Öfteren in M’dina J’dida und trank das mit Kadeöl aromatisierte Wasserder buntkostümierten fliegenden Händler, freundete mich mit einem alten mozabitischen Buchhändler in bauschiger Pluderhose an, lernte viel von einem jungen Imam, der von schwindelerregender Gelehrsamkeit war, und hörte den yaouled , den kleinen zerlumpten Schuhputzern, zu, die den Krieg kommentierten, der das Land in Stücke riss – sie waren weitaus besser informiert als ich, der Akademiker, der Intellektuelle, der Apotheker. Ich begann, mir Namen zu merken, die mir bis dahin völlig fremd gewesen waren und auf den Lippen der Meinen wie der Ruf des Muezzins klangen: Ben M’hidi, Zabana, Boudiaf, Abane Ramdane, Hamou Boutlilis, Soummam, Ouarsenis, Djebel Llouh, Ali la Pointe – Namen von Helden und von Orten, an denen die Volksseele mit einer derart glühenden, starken Überzeugung hing, wie ich mir das im Leben nie vorgestellt hätte.
    War ich etwa gerade dabei, nach einem Ausgleich für die Abtrünnigkeit meiner Freunde zu suchen …?
    Einmal habe ich Fabrice in seinem Haus an der Corniche, der Küstenstraße vor Oran, besucht. Er freute sich, mich wiederzusehen, aber der kühle Empfang, den seine Frau Hélène mir bereitete, stieß mir übel auf. Ich habe nie wieder einen Fuß in ihr Haus gesetzt. Wenn ich ihn unterwegs zufällig einmal traf, folgte ich ihm bereitwillig ins Café oder in ein Restaurant, aber Einladungen zu ihm nach Hause habe ich keine mehr angenommen. Ich legte keinen Wert auf die reservierte Art seiner Frau. Einmal habe ich ihm das auch gesagt. »Das bildest du dir nur ein, Jonas«, hatte er etwas pikiert erwidert. »Wie kommst du nur darauf? Hélène ist eine Städterin, das ist alles. Sie ist nicht wie die Mädchen bei uns. Gut, da gebe ich dir recht, sie ist etwas blasiert, aber das gehört zum urbanen Flair nun mal dazu …« Wie auch immer! Ich bin kein zweites Mal zu ihm nach Hause gegangen. Ich zog es vor, mich durch die Altstadt von Oran treiben zu lassen, durch La Calera, die Gegend rund um die Pascha-Moschee oder den Palast des Beys, und den Jungen von Raz el-Aïn dabei zuzusehen, wie sie sich an den Quel lenbalgten … Ich, der keinen Lärm vertrug, pfiff auf zwei Fingern die Schiedsrichter im Fußballstadion aus und erstand auf dem Schwarzmarkt Stierkampfkarten, um in der Eckmühl-Arena Miguel Dominguin lautstark zu applaudieren, wenn er den Torro abstach. Es gab in der Tat nichts Besseres als ohrenbetäubendes Gejohle, um Fragen zu verscheuchen, über die ich mir nicht den Kopf zerbrechen mochte. Und so gierte ich förmlich nach solchen Ereignissen, war glühender Anhänger der USMO geworden, des muslimischen Fußballclubs, und ließ keine einzige Boxgala aus. Wenn die muslimischen Boxer ihre Gegner zu Boden warfen, fühlte ich, wie sich ein nie gekanntes Ungestüm in mir Bahn brach – ihre Namen euphorisierten mich wie Opiumschwaden: Goudih, Khalfi, Cherraka, die Brüder Sabbane, der phänomenale Marokkaner Abdeslam … Ich erkannte mich selbst nicht mehr. Ich fühlte mich angezogen von der Gewalt und den Menschenmassen im Begeisterungstaumel wie der Nachtfalter von der Kerzenflamme. Es gab keinen Zweifel: Ich führte Krieg gegen mich selbst.
    Jean-Christophe heiratete Isabelle gegen Ende des Jahres. Ich erfuhr es einen Tag nach dem Fest. Niemand hatte es für nötig befunden, mir vorab Bescheid zu sagen. Weder Simon, der zu seinem Leidwesen auch nicht zur Hochzeit eingeladen war, noch Fabrice, der schon im Morgengrauen wieder nach Oran zurückgekehrt war, um sich nicht entschuldigen zu müssen, weiß der Himmel wofür. Was mich letztendlich noch einen Meilenstein weiter von ihrer Welt entfernte. Es war grausam …
    Jean-Christophe beschloss, sich woanders niederzulassen, weitab von Río Salado. Das Dorf vermochte seine Gier, die verlorene Zeit aufzuholen, seinen Drang, gewisse Erinnerungen loszuwerden, nicht zu stillen. Pépé Rucillio hatte ihnen zur Hochzeit ein schönes Domizil in einem der schicksten Viertel Orans geschenkt. Ich war zufällig auf dem Rathausplatz, als das junge Paar seinen Umzug durchführte. Vorneweg André, der die beiden in seinem Automobil chauffierte, dahinter der mit Möbelnund Geschenken überfrachtete Umzugslaster. Noch heute, am Ende

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