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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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mit dem Arsch zwischen zwei Stühlen, du kannst nach Lust und Laune herumlavieren. Du schlägst dich auf die Seite, die dir gerade passt.«
    Er zog ein Klappmesser aus der Tasche und schnitt sich ein dickes Stück vom roten Kugelkäse ab.
    »Siehst du manchmal noch André?«
    »Eher selten, in letzter Zeit.«
    »Ich hab gehört, er hätte mit seinem Vater eine Miliz auf die Beine gestellt?«
    »Genau.«
    »Ich kann’s kaum erwarten, ihm gegenüberzustehen … Ich hoffe, er weiß, dass ich geflohen bin?«
    »Keine Ahnung.«
    »Hat sich mein Ausbruch nicht in Río herumgesprochen?«
    »Ich jedenfalls wusste nichts davon.«
    »Eswar wie ein Wunder. Man hat mir den Kopf abgeschnitten, und er ist wieder nachgewachsen. Glaubst du an das Schicksal, Jonas?«
    »Mir ist so, als hätte ich gar keins.«
    »Ich glaube daran. Stell dir mal vor, während meiner Verlegung ins Gefängnis von Orléansville ist unterwegs ein Reifen geplatzt, und der Mannschaftswagen ist im Straßengraben gelandet. Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich im Gebüsch. Ich bin aufgestanden und losmarschiert, und weil mir niemand hinterhergelaufen ist, bin ich immer weiter marschiert. Ich habe mich bis aufs Blut gezwickt, um sicher zu sein, dass ich nicht träumte. Wenn das kein Zeichen des Himmels ist, dann weiß ich auch nicht!«
    Er schob den Teller zur Seite und erhob sich, um im Wohnzimmer nach dem Rechten zu sehen, ließ sein Maschinengewehr absichtlich auf dem Küchentisch liegen und kam dann zurück.
    »Er ist ganz schön übel zugerichtet, aber er hält was aus. Er wird schon durchkommen. Er muss durchkommen! Sonst …«
    Den Rest seines Satzes schluckte er hinunter und musterte mich, dann fuhr er in verändertem Ton fort:
    »Ich bin zuversichtlich. Als wir mit den Gendarmen fertig waren, wusste ich nicht, wohin mit meinem verletzten Vorgesetzten. Und plötzlich hallt dein Name durch meinen Kopf. Ich schwör’s dir, ich habe ihn gehört. Ich habe mich umgedreht. Kein Mensch. Ich hab’s aufgegeben, das verstehen zu wollen. Seit zwei Nächten schlagen wir uns jetzt schon durch die Büsche. Sogar die Hunde sind still, wenn wir vorbeikommen. Ist das nicht unglaublich?«
    Er schob sein Maschinengewehr in gespielter Zerstreutheit zur Seite.
    »Kein einziges Mal wurde ich bisher getroffen. Da wirst du auf Dauer fatalistisch. Meine Stunde, sag ich mir, ist erst gekommen, wenn Gott das entscheidet. Ich brauche weder die Menschen noch den Blitz zu fürchten … Und du? Wovor fürchtest dudich? Der Revolution geht es prächtig. Wir verzeichnen Siege an allen Fronten, das Volk unterstützt uns, das Ausland auch. Der große Tag ist nicht mehr weit. Worauf wartest du noch, um dich uns anzuschließen?«
    »Wirst du uns töten?«
    »Ich bin kein Mörder, Jonas. Ich bin ein Kämpfer. Für mein Vaterland bin ich bereit, mein Leben zu geben. Und was hast du zu geben?«
    »Meine Mutter versteht nicht viel von Chirurgie.«
    »Ich auch nicht, aber irgendwer muss es ja tun. Weißt du, wer der Capitaine ist? Es ist Sy Rachid, der ›ungreifbare Sy Rachid‹, von dem die Zeitungen reden. Ich habe viele Kämpfer erlebt, aber nicht einen mit seinem Charisma. Wir haben schon oft in der Falle gesessen. Und wie durch Zauber taucht er dann plötzlich auf und holt uns im Handumdrehen da heraus. Er ist einzigartig. Ich will nicht, dass er stirbt. Die Revolution braucht ihn.«
    »Gut, aber falls es anders kommt, was passiert dann mit uns?«
    »Wie erbärmlich von dir! Du denkst nur daran, die eigene Haut zu retten. Der Krieg, der täglich Hunderte von Menschenleben fordert, der berührt dich einfach nicht. Wenn ich nicht in deiner Schuld stünde, würde ich dich glatt abknallen wie einen Hund … Kannst du mir übrigens mal erklären, wieso ich es nicht fertigbringe, dich Younes zu nennen?«
    Er hatte weder die Stimme erhoben noch mit der Faust auf den Tisch geschlagen; er hatte mir seine Empörung mit müder Lippe vor die Füße geworfen. Er war zu erschöpft, um sich noch groß zu verausgaben. Doch die Verachtung, die er mir entgegenbrachte, war grenzenlos und erfüllte mich mit demselben ungeheuren Zorn wie seinerzeit Jean-Christophe, als er mich so grundlos aus seinem Leben strich.
    Der Krankenpfleger klopfte an, bevor er die Küche betrat. Er war schweißüberströmt.
    »Sie hat es geschafft.«
    »Gottsei gelobt!«, bemerkte Djelloul gleichmütig. Er breitete die Arme aus und sah mich an: »Siehst du? Sogar das Schicksal ist auf unserer Seite.«
    Er befahl dem

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