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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Er ging von Tür zu Tür und verkündete laut: »El Moro ist tot, ihr könnt aufatmen, liebe Leute. El Moro wird nie wieder sein Unwesen treiben. Jemand hat ihn umgelegt, ihm einen Dolchstich mitten ins Herz versetzt.«
    ZweiTage später brachte mein Vater mich in die Apotheke meines Onkels. Er zitterte wie im Fieberwahn, mit seinen roten Augen und seinem struppigen Bart.
    Mein Onkel kam nicht hinter dem Tresen hervor, um uns zu begrüßen. Unser überraschendes Erscheinen zu so früher Stunde, da die Händler eben erst ihre Eisenrollos hochzogen, verhieß nichts Gutes. Er dachte, mein Vater sei gekommen, um sich für die erlittene Kränkung zu revanchieren, und war ungeheuer erleichtert, als er ihn mit tonloser Stimme sagen hörte:
    »Du hattest recht, Mahi. Mein Sohn hat keine Zukunft bei mir.«
    Mein Onkel war sprachlos.
    Mein Vater hockte sich vor mich hin. Seine Finger taten mir weh, als er mich bei den Schultern packte. Er sah mir in die Augen und sagte:
    »Es ist alles nur zu deinem Besten, mein Kind. Ich lasse dich nicht im Stich, ich verstoße dich nicht, ich will nur, dass du deine Chance bekommst.«
    Er küsste mich auf den Kopf, wie man es sonst nur bei älteren Respektspersonen tut, lächelte mir gequält zu, stand wieder auf und verließ abrupt, fast schon im Laufschritt, den Laden – es sollte wohl niemand seine Tränen sehen.

5 .
    MEIN ONKEL WOHNTE IN DER europäischen Stadt am Ende einer Asphaltstraße mit richtigen Häusern aus Stein, schmucken, friedvollen Domizilen mit Fensterläden und schmiedeeisernen Gartenzäunen. Es war eine schöne Straße mit sauberen Gehwegen, gesäumt von sorgfältig gestutzten Gummibäumen. Hier und da standen Bänke, auf denen alte Männer saßen und der Zeit beim Verstreichen zusahen. Auf den Plätzen tollten Kinder. Sie trugen weder Lumpen wie die Gören von Djenane Djato noch das Stigma des bösen Geschicks im niedlichen Gesicht, sondern schienen das Leben in vollen Zügen zu genießen. In dem ganzen Viertel herrschte eine sagenhafte Ruhe; man hörte nur Kindergeplapper und Vogelgezwitscher.
    Das Haus meines Onkels war zweigeschossig, mit einem Vorgärtchen und seitlich einer Gartenallee. Die Bougainvillea überwucherte die Umfassungsmauer und ließ sich ins Leere fallen, über und über mit violetten Blüten bestirnt. Die Veranda trug ein dichtes Dach üppig rankenden Weinlaubs.
    »Im Sommer hängen hier überall die Trauben«, bemerkte mein Onkel, während er das Gartentor aufstieß. »Du musst dich nur auf die Zehenspitzen stellen, um sie zu ernten.«
    In seinen Augen blitzten tausend Lichter. Er war selig.
    »Es wird dir hier gefallen, mein Junge.«
    Eine rothaarige Frau um die vierzig öffnete die Tür. Sie war schön, hatte ein rundes Gesicht und große meergrüne Augen. Als sie mich auf dem Treppenabsatz erblickte, führte sie beide Händean ihr Herz und stand für eine Weile sprachlos da, völlig überwältigt. Dann sah sie meinen Onkel fragend an, und als dieser nickte, war ihre Erleichterung groß.
    »Mein Gott! Wie schön er ist!«, rief sie aus und hockte sich vor mich hin, um mich aus der Nähe anzusehen.
    Ihre Arme griffen so schnell nach mir, dass ich fast hintenübergefallen wäre. Sie war eine kräftige Frau, mit etwas brüsken, mitunter männlichen Bewegungen. Sie presste mich an sich, und ich konnte ihr Herz schlagen hören. Sie roch so gut wie ein ganzes Lavendelfeld, und die Tränen am Wimpernrand ließen ihre Augen noch grüner schimmern.
    »Liebe Germaine«, sagte mein Onkel, und seine Stimme bebte, »ich stelle dir Younes vor, gestern noch mein Neffe, heute unser Sohn.«
    Ich spürte, wie ein Schauer den Körper der Frau durchlief. Die Träne der Rührung, die eben an ihren Wimpern hing, kullerte jäh ihre Wange hinunter.
    »Jonas«, sagte sie und unterdrückte ein Schluchzen, »Jonas! Wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin!«
    »Sprich Arabisch mit ihm. Er hat keine Schule besucht.«
    »Das macht doch nichts. Das bekommen wir schon hin.«
    Zitternd erhob sie sich, nahm mich bei der Hand und führte mich in einen Raum, der mir größer schien als ein Stall und prachtvoll möbliert war. Das Tageslicht drang ungefiltert durch eine riesige, mit Vorhängen drapierte Glastür, die zu einer Veranda mit zwei Schaukelstühlen und einem Beistelltisch führte.
    »Das, Jonas, ist dein neues Zuhause«, erklärte mir Germaine.
    Mein Onkel kam hinterher, er hatte ein Paket unterm Arm und strahlte von einem Ohr zum anderen.
    »Ich habe ihm ein paar

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