Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
wieder die Augen, fest überzeugt, wenn ich sie öffnete, sähe ich die Statue vor mir, wie sie auf allen vieren auf mich zukriecht.
    Ich hatte solche Angst, dass ich nicht weiß, ob ich eingeschlafen oder ohnmächtig geworden bin …
    »Mahi!«
    Der Schrei ließ mich auffahren, und ich stieß mir den Kopf am Lattenrost.
    »Jonas ist nicht in seinem Zimmer!«, schrie Germaine.
    »Was soll das heißen, nicht in seinem Zimmer?«, ereiferte sich mein Onkel.
    Ich hörte sie durch den Korridor laufen, Türen schlagen, Treppen hinuntereilen. »Er hat das Haus nicht verlassen. Die Tür ist zweifach abgeschlossen«, sagte mein Onkel. »Die Fens tertürzur Veranda ist auch abgeschlossen. Hast du schon auf der Toilette nachgeschaut?« – »Da war ich gerade!«, antwortete Germaine, mit aufkommender Panik in der Stimme. Bist du sicher, dass er nicht in seinem Zimmer ist? – Ich sag dir doch, sein Bett ist leer … Sie suchten im Erdgeschoss, schoben einige Möbel umher, dann kamen sie wieder die Treppe herauf und noch einmal in mein Zimmer.
    »Mein Gott, Jonas!«, rief Germaine, als sie mich auf der Bettkante sitzen sah. »Wo hast du nur gesteckt?«
    Meine ganze rechte Seite war steif, und die Gelenke taten mir weh. Mein Onkel beugte sich über die kleine Beule, die auf meiner Stirn zu sprießen begann.
    »Bist du aus dem Bett gefallen?«
    Ich streckte den schmerzenden Arm zur Statue aus:
    »Sie hat sich die ganze Nacht über bewegt.«
    Germaine deckte mich gleich wieder zu.
    »Jonas, mein süßer Jonas, warum hast du mich denn nicht gerufen? Du bist ganz blass, und ich bin schuld.«
    Am nächsten Abend war die Statue des geflügelten Kindes aus meinem Zimmer verschwunden, mitsamt dem Kruzifix und den Ikonen. Germaine blieb bei mir auf der Bettkante sitzen, streichelte mir die Haare und erzählte mir in einer Mischung aus Arabisch und Französisch so lange Geschichten, bis der Sandmann sie ablösen kam.
    Wochen vergingen, und die Sehnsucht nach meinen Eltern wuchs. Germaine ließ nichts unversucht, mir das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Vormittags nahm sie mich zum Einkaufen mit, und auf dem Heimweg hatte ich stets eine Näscherei oder ein Spielzeug in der Hand. Nachmittags brachte sie mir Lesen und Schreiben bei. Sie hätte mich am liebsten in der Schule angemeldet, aber mein Onkel zog es vor, nichts zu überstürzen. Manchmal durfte ich ihn in die Apotheke begleiten. Dann setzte er mich im Hinterzimmer an einen kleinen Tisch vor ein Heft und ließ mich, während er die Kundschaft bediente, dasAlphabet abschreiben. Germaine war der Meinung, ich hätte eine rasche Auffassungsgabe, und verstand nicht, warum mein Onkel zögerte, mich einem richtigen Lehrer anzuvertrauen. Nach zwei Monaten konnte ich schon Wörter lesen, ohne allzu sehr über die Silben zu stolpern. Doch mein Onkel blieb hart, er weigerte sich, von der Schule zu sprechen, bevor er nicht absolut sicher sein konnte, dass mein Vater es sich nicht doch noch anders überlegen und mich zurückholen würde.
    Eines Abends, während ich planlos durch Gänge und Flure streifte, lud er mich in sein Arbeitszimmer ein. Ein spartanisch eingerichteter Raum mit einer winzigen Luke, durch die nur wenig Licht drang. Die Wände waren kaum zu sehen vor lauter Büchern. Sie waren überall, in den Regalen, auf den Kommoden, dem Tisch. Mein Onkel saß auf einem Stuhl, über ein dickleibiges Werk gebeugt, auf der Nasenspitze die Lesebrille. Er nahm mich auf den Schoß und drehte mich in Richtung eines Frauenporträts an der Wand.
    »Eines musst du wissen, mein Junge. Du bist nicht von irgendeinem Baum in den nächstbesten Graben geplumpst … Siehst du die Dame da auf dem Foto? Ein General hat ihr einst den Beinamen Jeanne d’ Arch * verpasst. Sie war eine vermögende Witwe, von edler Herkunft, gestreng und sehr wohlhabend. Sie hieß Lalla Fatna, und ihr Grundbesitz erstreckte sich über die gesamte Region. Ihre Viehbestände bevölkerten die Ebenen, und die Notablen der ganzen Gegend fraßen ihr aus der Hand. Selbst die französischen Offiziere machten ihr den Hof. Man erzählt sich, hätte Emir Abd el-Kader sie gekannt, er hätte den Lauf der Geschichte geändert … Sieh sie dir gut an, mein Junge. Diese Dame, diese Märchengestalt, nun, das ist deine Urgroßmutter.«
    Eine schöne Frau, diese Lalla Fatna. Wie sie da mit kerzengeradem Hals und hoheitsvoller Miene auf ihren Kissen thronte,im goldbestickten, edelsteinbesetzten Kaftan, schien sie ebenso über die Männer

Weitere Kostenlose Bücher