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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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wurde im Wohnzimmer gegessen. Auch das war seltsam: Mein Onkel brauchte keine Petroleumlampe, um seine Nächte zu erhellen. Er musste nur auf einen Lichtschalter drücken, schon gingen ein paar Glühbirnen an der Decke an. Ich fühlte mich sehr unwohl bei Tisch. Daran gewöhnt, aus derselben Schale wie der Rest der Familie zu essen, kam ich mir vor dem eigenen Teller ziemlich hilflos vor. Ich bekam kaum einen Bissen herunter. Dieser Blick, der pausenlos jede meiner Bewegungen verfolgte, machte mich verlegen; diese Hände, die mir dauernd über die Haare strichen oder mich in die Wange kniffen, störten mich.
    »Nur nichts überstürzen!«, ermahnte Germaine meinen Onkel ein ums andere Mal. »Lassen wir ihm die Zeit, die er braucht, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen.«
    Mein Onkel hielt sich einen Moment zurück, im nächsten ging die Begeisterung aufs Neue mit ihm durch.
    Nach dem Abendessen begaben wir uns in den ersten Stock.
    »Das ist dein Zimmer, Jonas«, verkündete mir Germaine.
    Mein Zimmer … Es lag am Ende des Korridors und war doppelt so groß wie das in Djenane Djato, in dem meine ganze Familie wohnte. In der Mitte befand sich ein breites Bett, rechts und links von zwei Nachttischen bewacht. An den Wänden gab esBilder, traumartige Landschaften oder Betende mit goldenem Heiligenschein, die Hände unterm Kinn gefaltet. Auf dem Kaminsockel ragte eine kleine Bronzestatue in die Höhe: ein geflügeltes Kind, und darüber hing ein Kruzifix. Ein wenig abseits standen, traut vereint, ein kleiner Schreibtisch und ein Polsterstuhl. Ein eigentümlicher Duft hing im Raum, süß und flüchtig. Der Blick durch das Fenster fiel auf die Straßenbäume und die gegenüberliegenden Hausdächer.
    »Gefällt es dir?«
    Ich gab keine Antwort. Die luxuriöse Umgebung erschlug mich fast, machte mir Angst. Ich fürchtete, beim ersten falschen Schritt alles umzuwerfen, so sehr schien die Ordnung ringsum bis ins kleinste Detail ausgeklügelt und am sprichwörtlichen seidenen Faden zu hängen.
    Germaine bat meinen Onkel, uns allein zu lassen. Sie wartete, bis er gegangen war, dann begann sie, mich auszuziehen und streckte mich auf dem Bett aus, als ob ich unfähig gewesen wäre, mich ohne ihre Hilfe hinzulegen. Mein Kopf versank in den Kissen.
    »Schlaf gut, mein Junge, und träum was Schönes.«
    Sie zog die Bettdecke über mir gerade, drückte mir einen endlosen Kuss auf die Stirn, machte die Nachttischlampe aus und huschte auf Zehenspitzen aus dem Raum, die Tür behutsam hinter sich schließend.
    Die Finsternis machte mir nichts aus. Ich war das Alleinsein gewöhnt, hatte keine allzu lebhafte Phantasie und schlief im Allgemeinen schnell ein. Aber in der bedrückenden Atmosphäre dieses Schlafzimmers befiel mich ein unergründliches Unbehagen. Natürlich fehlten mir meine Eltern. Aber es war nicht ihre Abwesenheit, die dieses mulmige Gefühl in meiner Magengrube auslöste. Da war etwas Fremdartiges im Raum, das ich nicht näher lokalisieren konnte, doch es hing in der Luft, ich spürte es, unsichtbar und lastend zugleich. War es der Geruch der Bettdecke, der mir zu Kopf stieg, oder jener, der in den Ecken und Winkeln saß? War es dieses Keuchen, das hier und dawiderhallte, manchmal sogar im Kamin? Ich war mir sicher, ich war nicht allein im Raum, da war etwas anderes, hockte im Dunkel, spähte mich aus. Mir stockte der Atem, und mein Nackenhaar sträubte sich, als mir eine kalte Hand übers Gesicht fuhr. Draußen beschien der Vollmond die Straße. Der Wind pfiff durch die Eisengitter, während die Bäume sich unter dem Ansturm der Böen die Haare rauften. Ich zwang mich, die Augen zu schließen und klammerte mich an die Laken. Doch die eisige Hand wollte nicht weichen. Und die fremde Gegenwart breitete sich immer mehr im Raum aus. Ich spürte, wie sie am Fußende meines Bettes stand, bereit, sich auf mich zu stürzen. Ich bekam kaum noch Luft; mein Herz war kurz davor, zu zerspringen. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich, wie sich die Statue auf dem Kamin langsam zu drehen begann. Sie blickte mich aus ihren blinden Augen an, den Mund in einem traurigen Lächeln erstarrt … Entsetzt sprang ich aus dem Bett und verschanzte mich hinter dem Kopfende. Die Statue des geflügelten Kindes verrenkte sich den Hals nach mir, ihr monströser Schatten bedeckte die ganze Wand. Ich verkroch mich unter dem Bett, wickelte einen Teil des Lakens um mich, machte mich, während mein Herz wie rasend klopfte, ganz klein und schloss

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