Die Schuld des Tages an die Nacht
wie über ihre Träume zu gebieten.
Mein Onkel ging zu einem zweiten Foto über, das drei Männer im herrschaftlichen Burnus zeigte, jeder mit gepflegtem Bart und kräftigem Gesicht, jeder mit einem Blick, dessen Intensität fast den Rahmen zu sprengen schien.
»Der in der Mitte, das ist mein Vater, also dein Großvater. Die beiden anderen sind seine Brüder. Der zur Rechten, das ist Sidi Abbas. Er ist nach Syrien aufgebrochen und nie wiedergekommen. Links, das ist Abdelmoumen, ein brillanter Gelehrter. Er hätte die treibende Kraft der Ulema-Bewegung werden können, denn seine Bildung überstieg jedes Vorstellungsvermögen, doch er ist allzu schnell den Verlockungen des süßen Lebens erlegen. Er verkehrte in den Kreisen der europäischen Bourgeoisie, vernachlässigte seine Ländereien und sein Vieh und verjubelte sein Vermögen im Bordell. Eines Tages hat man ihn tot in einer dunklen Gasse aufgefunden, hinterrücks erdolcht.«
Dann drehte er mich in Richtung eines dritten Porträts, das größer war als die beiden vorigen.
»Hier in der Mitte posieren dein Großvater und seine fünf Söhne. Er hatte auch drei Töchter, aber aus erster Ehe, von denen sprach er nie. Rechts von ihm, das ist der Älteste, Kaddour. Er hatte sich nie besonders gut mit dem Patriarchen verstanden und wurde enterbt, als er nach Frankreich ging, um sein Glück in der Politik zu versuchen … Der zur Linken ist Hassan; er lebte auf großem Fuß, trieb sich mit Frauen von zweifelhaftem Ruf herum, die er mit Edelsteinen überhäufte, und schloss ohne Wissen des Stammes Geschäfte ab, die einen Großteil unserer Gehöfte und unseres Gestüts verschlungen haben. Als dein Großvater vor den Kadi gezerrt wurde, konnte er nur noch den Schaden konstatieren. Davon hat er sich nie mehr erholt. Neben Hassan, das ist Abdessamad, ein richtiges Arbeitstier, aber er musste sich von der Familie lossagen, weil der Patriarch ihm verboten hatte, eine Cousine zu heiraten, deren Stamm sich mit denFranzosen verbündet hatte. Er ist als Soldat gefallen, irgendwo in Europa, gegen Ende der Kriegsjahre ’ 14 bis ’ 18 … Und die beiden Knirpse, die du da zu Füßen des Patriarchen sitzen siehst, das sind dein Vater Issa, der Jüngste, und ich, zwei Jahre älter als er. Wir hingen sehr aneinander … Dann bin ich schwerkrank geworden, und weder die Ärzte noch die Heiler konnten etwas für mich tun. Damals war ich etwa so alt wie du jetzt. Dein Großvater war verzweifelt. Als ihm jemand die katholischen Nonnen empfahl, wollte er nichts davon wissen. Da ich zusehends dahinschwand, klopfte er eines Morgens zu seiner eigenen Überraschung bei den Nonnen an die Tür …«
Er zeigte mir ein Foto, auf dem eine Gruppe Nonnen posierte:
»Diese Schwestern haben mir das Leben gerettet. Das hat sich über Jahre hingezogen, lange genug, um Abitur zu machen. Dein Großvater, den die Hypotheken und Epidemien ruiniert hatten, willigte ein, mir das Pharmaziestudium zu bezahlen. Vielleicht hatte er begriffen, dass Bücher mir mehr Aussicht boten davonzukommen als seine Gläubiger. Als ich dann auf der Universität Germaine kennenlernte, die Biologie studierte, widersetzte sich dein Großvater, obwohl er sicher schon ein Auge auf eine Cousine oder die Tochter eines seiner Verbündeten geworfen hatte, nicht unserer Verbindung. Nachdem ich mein Diplom in der Tasche hatte, fragte er mich, was ich für Pläne hätte. Ich entschied mich für die Apotheke und das Leben in der Stadt. Er stimmte zu, ohne mir Bedingungen zu stellen. So habe ich das Haus hier und den Laden gekauft … Dein Großvater hat mich kein einziges Mal in der Stadt besucht. Noch nicht einmal, als ich Germaine geheiratet habe. Er hat mich nicht verstoßen, er wollte nur, dass ich meine Chance bekäme . Wie dein Vater, als er dich in meine Obhut gegeben hat … Dein Vater ist ein anständiger Mensch, ehrlich und fleißig. Er hat zu retten versucht, was er konnte. Aber er war allein. Dafür kann er nichts. Er war nur das letzte Rad eines Karrens, der schon gegen die Wand gefahren war. Zu zweit, so denkt er bis heute,hätten wir es geschafft, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen, aber das Schicksal hat anders entschieden.«
Er umfasste mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und sah mir in die Augen:
»Du fragst dich bestimmt, warum ich dir all das erzähle, mein Junge. Nun, damit du weißt, woher du stammst. In deinen Adern fließt Lalla Fatnas Blut. Du hast das Zeug, zu schaffen, was deinem Vater nicht gelungen
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