Die Schuld des Tages an die Nacht
ist, du kannst wieder nach oben steigen.«
Er küsste mich auf die Stirn.
»Und jetzt geh, lauf zu Germaine. Sie wartet bestimmt schon sehnsüchtig im Wohnzimmer auf dich.«
Ich rutschte von seinen Knien herunter und lief zur Tür.
Er zog die Augenbrauen hoch, als er mich plötzlich mitten im Lauf abbremsen sah.
»Ja, mein Junge …?«
Nun sah ich ihm in die Augen und fragte:
»Wann gehen wir meine kleine Schwester besuchen?«
»Übermorgen, Ehrenwort.«
Mein Onkel kam früher als gewöhnlich nach Hause. Germaine und ich waren auf der Veranda, sie saß lesend im Schaukelstuhl, ich versuchte, eine Schildkröte wiederzufinden, die ich am Abend zuvor zwischen den Pflanzen entdeckt hatte. Stirnrunzelnd legte Germaine das Buch auf den Beistelltisch – mein Onkel hatte ihr keinen Kuss gegeben, wie er das sonst jeden Tag beim Nachhausekommen tat. Sie wartete noch ein paar Minuten, doch als mein Onkel nicht wieder auftauchte, stand sie auf und ging zu ihm ins Haus.
Mein Onkel saß am Küchentisch, den Kopf in den Händen vergraben. Germaine begriff, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste. Ich sah, wie sie ihm gegenüber Platz nahm und nach seinem Handgelenk fasste.
»Probleme mit der Kundschaft?«
»Warum sollte ich Probleme mit der Kundschaft haben?«, erregtesich mein Onkel. »Ich bin doch nicht derjenige, der ihnen die Medikamente verschreibt.«
»Aber du wirkst ganz aufgewühlt.«
»Kein Wunder, ich war gerade in Djenane Djato.«
Germaine zuckte zusammen:
»Solltest du nicht morgen mit dem Kleinen dorthin?«
»Ich wollte vorher das Terrain sondieren.«
Germaine holte eine Karaffe Wasser und goss ihrem Mann ein Glas ein, das er in einem Zug leer trank.
Sie sah mich mitten im Wohnzimmer stehen und zeigte mit der Hand nach oben:
»Warte in deinem Zimmer auf mich, Jonas. Wir gehen nachher deine Aufgaben durch.«
Ich tat, als liefe ich die Treppe hoch, und verharrte einen Moment auf halber Höhe, schlich dann ein paar Stufen zurück und spitzte die Ohren. Die Erwähnung von Djenane Djato hatte mich hellhörig gemacht. Ich wollte wissen, was sich hinter der sorgenvollen Miene meines Onkels verbarg. War meinen Eltern etwas zugestoßen? Hatten sie meinen Vater ausfindig gemacht und wegen des Mordes an El Moro ins Gefängnis gesperrt?
»Also, was ist?«, fragte Germaine mit gedämpfter Stimme.
»Was soll schon sein?«, entgegnete mein Onkel matt.
»Hast du deinen Bruder gesehen?«
»Er sieht erbärmlich aus, er ist völlig heruntergekommen.«
»Hast du ihm Geld gegeben?«
»Schön wär’s! Kaum hatte ich die Hand in die Hosentasche gesteckt, erstarrte er, als zöge ich gleich eine Waffe hervor. ›Ich habe dir mein Kind nicht verkauft‹, hat er gesagt. ›Ich habe es dir anvertraut.‹ Das war ein Schock. Mit Issa geht es steil bergab. Ich sehe schwarz für ihn.«
»Wieso?«
»Wenn du ihn sehen würdest, würdest du nicht fragen! Er hat Augen wie ein Toter.«
»Und Jonas? Du wolltest doch morgen mit ihm seine Mutter besuchen gehen?«
»Nein.«
»Du hast es ihm aber versprochen.«
»Ich habe es mir anders überlegt. Er ist gerade mal aus dem Gröbsten heraus, ich habe nicht die Absicht, ihn da wieder hineinzustoßen.«
»Mahi …«
»Lass gut sein. Ich weiß, was ich zu tun und vor allem zu lassen habe. Unser Junge muss nach vorne schauen. Wenn er zurückblickt, sieht er nur Trübsal.«
Ich hörte, wie Germaine nervös auf ihrem Stuhl herumrutschte.
»Du gibst zu schnell auf, Mahi. Dein Bruder braucht dich doch.«
»Ja glaubst du vielleicht, ich hätte nicht alles versucht? Issa gleicht einer Ladung Dynamit, du musst ihn nur anrühren, schon explodiert er. Da hast du keine Chance. Wenn du ihm die Hand reichst, schneidet er dir den Arm ab. Alles, was von anderen kommt, sieht er als Almosen an.«
»Du bist aber nicht die anderen , du bist sein Bruder.«
»Glaubst du, das wüsste er nicht? Aber für ihn macht das keinen Unterschied. Sein Problem ist, er will einfach nicht wahrhaben, dass er so tief gesunken ist. Jetzt, wo er nur noch der Schatten seiner selbst ist, blendet ihn alles, was glänzt. Und außerdem hat er einen Groll auf mich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er mir grollt. Er denkt, wäre ich damals nicht weggegangen, hätten wir beide unsere Ländereien sicherlich retten können. Davon ist er überzeugt. Heute mehr denn je. Es ist geradezu eine fixe Idee von ihm.«
»Ach, du hast doch nur Schuldgefühle …«
»Schon möglich, aber er ist besessen von dieser
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