Die Schuld des Tages an die Nacht
aufzusetzen. Wieder umschlangen mich ihre Arme und zogen mich an ihre Brust.
»Ich bin so froh, dich zu sehen. Wie ist es denn bei deinem Onkel?«
»Germaine ist sehr nett zu mir. Sie wäscht mich jeden Tag und kauft mir alles, was ich will. Ich habe jede Menge Spielzeug, und Gläser mit Konfitüre, und Schuhe … Weißt du, Mama, das Haus ist sehr groß. Da gibt es genügend Schlafzimmer und Platz für uns alle. Warum kommt ihr nicht einfach mit zu uns?«
Meine Mutter lächelte, und jäh waren Kummer und Leid, die ihr Gesicht zeichneten, verschwunden. Sie war eine schöne Frau, meine Mutter, mit ihrem schwarzen Haar, das bis zur Rundung ihrer Hüften ging, und ihren Augen, die so groß waren wie Untertassen. Damals, als wir noch auf unseren Ländereien lebten, hatte ich sie oft für eine Sultanin gehalten, wenn ich sah, wie sie auf einer Anhöhe stand und ihren Blick über unsere Felder schweifen ließ. Sie hatte Anmut und Würde, und wenn sie den Hügel hinuntereilte, dann hängte sie beschwingt all das Elend ab, das sich wie eine Hundemeute an ihren Kleidersaum krallte.
»Aber ja, ganz im Ernst«, beharrte ich, »warum kommt ihr nicht einfach alle mit und wohnt mit uns im Haus meines Onkels?«
»So einfach geht das nicht bei den Erwachsenen, mein Junge«, erwiderte sie und wischte mir über die Wange. »Und dann würde dein Vater auch nie im Leben bei jemandem wohnen wollen. Er will aus eigener Kraft etwas leisten und nieman demetwas schuldig sein … Du siehst gut aus«, fügte sie hinzu. »Ich habe den Eindruck, du bist dicker geworden … Und wie hübsch du in dieser Kleidung bist! Fast schon wie ein kleiner Rumi.«
»Germaine nennt mich Jonas.«
»Wer ist Germaine?«
»Die Frau meines Onkels.«
»Das macht nichts. Die Franzosen können unsere Namen nicht richtig aussprechen. Sie machen das nicht absichtlich.«
»Ich kann jetzt lesen und schreiben …«
Ihre Finger zausten mein Haar.
»Wie schön. Dein Vater hätte dich niemals deinem Onkel überlassen, wenn er nicht erwartet hätte, dass er dir das gibt, was Vater dir nicht bieten kann.«
»Wo ist er überhaupt?«
»Er arbeitet. Pausenlos … Du wirst schon sehen, eines Tages wird er kommen und dich zum Haus seiner Träume führen … Weißt du eigentlich, dass du in einem schönen Haus geboren bist? Die Hütte, in der du groß geworden bist, gehörte einer Bauernfamilie, die für deinen Vater arbeitete. Am Anfang waren wir fast reich. Ein ganzes Dorf hat mit uns Hochzeit gefeiert. Eine Woche lang gab es Gesang und Lustbarkeiten. Unser Haus war aus Stein gebaut, und rundherum waren Gärten. Deine ersten drei Brüder sind wie die Prinzen geboren. Aber sie haben nicht überlebt. Du bist erst später zur Welt gekommen und hast in diesen Gärten gespielt, bis du außer Atem warst. Dann fasste Gott den Beschluss, dass der Winter den Frühling ablöst, und unsere Gärten gingen ein. So ist das Leben, mein Kind. Was es mit der einen Hand gibt, nimmt es uns mit der anderen wieder weg. Aber nichts hindert uns daran, es zurückzuerobern. Und dir wird es gelingen. Ich habe Batoul, die Seherin, befragt. Sie hat in den Wasserwirbeln gelesen, dass du es schaffen wirst. Deshalb ermahne ich mich jedes Mal, wenn du mir gar zu sehr fehlst, nicht so eigennützig zu sein, und ich sage mir: Es geht ihm gut, da wo er jetzt ist. Er ist gerettet.«
* Arch – in algerischen Dörfern eine Art Ältestenrat oder Stammesverband (A.d.Ü.)
6 .
ICH BIN NICHT LANGE BEI meiner Mutter geblieben. Oder vielleicht eine Ewigkeit. Ich erinnere mich nicht. Zeit spielte keine Rolle. Da war etwas anderes, Intensiveres, Wesentliches. Wie beim Besuch im Gefängnis. Wo nur zählt, was dir bleibt von dem Moment, den du mit dem Menschen geteilt hast, der dir so fehlt. Damals war mir nicht bewusst, was mein Fortgehen bei meiner Familie anrichtete, welchen Verlust sie dadurch erlitt. Meine Mutter hatte keine einzige Träne vergossen. Weinen würde sie später. Sie ließ meine Hand, während sie lächelnd zu mir sprach, kein einziges Mal los. Das Lächeln meiner Mutter war wie eine Absolution.
Wir hatten uns in etwa alles gesagt, was es zu sagen gab, also nicht viel und schon gar nichts, was wir nicht längst gewusst hätten.
» Das hier ist kein guter Ort für dich« , hatte sie zwischendurch verkündet.
Als sie fiel, hatte mich ihre Bemerkung nicht übermäßig aufhorchen lassen. Ich war nur ein Lausbub, der Worten nicht viel Beachtung schenkte. Hatte ich sie wahrgenommen, ihnen
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