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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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los, Monsieur Jonas …? Ihre Hand umfasste mein Kinn, hob meinen Kopf an … Alles in Ordnung …? Das Echo ihrer Stimme verlor sich im Aufruhr meiner Schläfen … Bin ich es, die Sie in diesen Zustand versetzt …? Vielleicht sprach auch gar nicht sie. Vielleicht war ich es selbst, ohne meine Stimme zu erkennen. Ihre Finger tasteten über mein Gesicht. Die Wand in meinem Rücken wurde zur Festungsmauer, die mir jeden Rückzug verwehrte. Monsieur Jonas …? Ihr Blick hüllte mich ein, ich ging darin unter, löste mich auf. Ihr Atem umkreiste mein Keuchen, sog es ein, unsere Gesichter verschmolzen bereits. Als ihre Lippen die meinen berührten, glaubte ich, in tausend Stücke zu zerspringen; es war, als ob sie mich auslöschen würde, um mich mit den Fingerspitzen neu zu erfinden. Es war noch kein Kuss, kaum eine Berührung, flüchtig und scheu – erkundete sie das Terrain? Sie rückte leicht von mir ab, und es war, als wiche eine Welle zurück, die meine Nacktheit und Erregung entblößte. Schon war ihr Mund wieder da, selbstgewisser, siegessicher; keine Quelle hätte mich derart erquickt. Mein Mund überließ sich ihrem, zerging darin, wurde selbst zu Wasser, und Madame Cazenave trank mich bis zur Neige, in einem unablässig sich erneuernden Schluck. Mein Kopf schwebte in Wattewolken, meine Füße ruhten auf einem fliegenden Teppich. Verschreckt von so viel Glück, hatte ich wohl versucht, mich ihr zu entziehen, denn auf einmal spürte ich im Nacken den Druck einer kräftigen Hand. Da ließ ich alles mit mir geschehen, völlig widerstandslos. Entzückt, in der Falle zu sitzen, in flammender Zustimmung und seligem Staunen ob meiner Niederlage wurde ich eins mit dieser Zunge, die meine suchte. Unendlich zärtlich knöpfte sie mein Hemd auf, ließ es einfach fallen. Ich atmete nur noch in ihrem Atem, lebte nur noch durch ihren Pulsschlag. Ich hatte das undeutliche Gefühl,dass man mich entblätterte, in ein Schlafzimmer schob, auf ein Bett warf, so tief wie ein Fluss. Tausend Finger setzten meine Haut in Brand wie ebenso viele Feuerwerke; ich war das Fest, ich war die Freude, ich war die Ekstase in ihrer absoluten Trunkenheit; ich spürte, wie ich im selben Atemzug verging und zugleich neu geboren wurde.
    »Nun komm mal auf die Erde zurück«, schalt mich Germaine in der Küche aus. »In zwei Tagen hast du die Hälfte meines Geschirrs zerschlagen.«
    Da erst merkte ich, dass mir der Teller, den ich gerade abwusch, entglitten und zu meinen Füßen entzweigebrochen war.
    »Du bist zu zerstreut …«
    »Tut mir leid …«
    Germaine sah mich neugierig an, wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken und legte sie mir auf die Schultern.
    »Was ist denn los mit dir?«
    »Nichts. Er ist mir nur aus der Hand gerutscht.«
    »Ja … das Problem ist nur, dass es kein Ende zu nehmen scheint.«
    »Germaine!«, rief mein Onkel aus seinem Zimmer.
    Der Gong hatte mich gerettet. Germaine vergaß mich augenblicklich und rannte in das Zimmer am anderen Ende des Ganges.
    Ich kannte mich selbst nicht mehr. Seit meinem Abenteuer mit Madame Cazenave wusste ich nicht mehr ein noch aus, verlor mich im Irrgarten einer Euphorie, die nicht enden wollte. Es war meine erste Erfahrung als Mann, meine erste intime Begegnung, und es war wie ein Rausch. Ich brauchte nur eine Sekunde allein zu sein, schon überwältigte mich die himmlische Pein des Begehrens. Mein Körper spannte sich wie ein Bogen; ich spürte die tastenden Finger Madame Cazenaves auf meiner Haut, ihre Liebkosungen, heilsame Bisse, die in jede Körperfaser drangen, zu Schauern wurden, sich ins Blut verwandelten, das in meinen Schläfen pochte. Wenn ich die Augen schloss, nahmich sogar ihr Keuchen wahr, und mein Universum füllte sich mit ihrem sinnlichen Atem. Nachts konnte ich keinen Schlaf finden. Die imaginären Liebesspiele hielten mich bis zum Morgen in Trance.
    Simon fand mich sterbenslangweilig. Seine Scherze ließen mich kalt. Während Jean-Christophe und Fabrice sich bei jedem seiner Witze vor Lachen bogen, saß ich wie eine Marmorstatue daneben. Ich sah, wie sie sich amüsierten, ohne zu erfassen, worum es ging. Wie oft hatte Simon nicht schon mit seiner Hand vor meinen Augen herumgefuchtelt, um zu sehen, ob ich noch von dieser Welt war? Für eine Weile kam ich zu mir, dann verfiel ich erneut in eine Art kataleptische Starre, und jäh verklangen die Geräusche der Außenwelt.
    Ganz gleich, ob oben auf dem Hügel unter dem alten Olivenbaum oder unten am Strand, ich

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