Die Schuld des Tages an die Nacht
weilte nur körperlich unter meinen Kameraden.
Ich hatte zwei volle Wochen verstreichen lassen, bevor ich meinen Mut in beide Hände nahm und mich zum großen weißen Haus an der Piste zum Marabout aufmachte. Es war spät, und die Sonne streckte bereits die Waffen. Ich ließ mein Fahrrad am Gartenzaun stehen und ging in den Hof … Und da war sie, kauerte vor einem Strauch, die Heckenschere in der Hand, und kümmerte sich um ihren Garten.
»Monsieur Jonas …?!« Sie erhob sich.
Dann legte sie die Schere auf einen Haufen Kieselsteine und schlug ein paarmal in die Hände, um den Staub abzuschütteln. Wieder hatte sie ihren rotbebänderten Strohhut auf und trug das weiße Kleid, das ihre verführerischen Formen in der Abendsonne großzügig zur Geltung brachte.
Wir sahen einander wortlos an.
Allein das Zirpen der Grillen unterbrach die bleierne Stille, und mir war, als würden gleich meine Schläfen zerspringen.
»Guten Tag, Madame.«
Sie lächelte, und in ihren Augen spiegelte sich der Horizont.
»Was führt Sie zu mir, Monsieur Jonas?«
Etwasin ihrer Stimme ließ mich das Schlimmste befürchten.
»Ich bin zufällig hier vorbeigekommen«, log ich. »Ich wollte nur rasch guten Tag sagen.«
»Wie nett.«
Sie war so kurz angebunden, dass ich erstarrte.
Unverwandt musterte sie mich. Als ob ich meine Gegenwart an diesem Ort rechtfertigen müsste. Sie schien mein Eindringen gar nicht zu schätzen. Man hätte meinen können, ich störe sie.
»Brauchen Sie nicht vielleicht … Ich habe mir gesagt, dass ich … Nun ja, falls es etwas zu reparieren oder umzuräumen gibt …?«
»Dafür gibt es Dienstpersonal.«
Mir fiel keine Ausrede mehr ein, ich hatte mich lächerlich gemacht und ärgerte mich schwarz über mich selbst. War ich nicht auf dem besten Wege, alles zu verderben?
Sie kam auf mich zu, blieb dicht vor mir stehen und durchbohrte mich, unentwegt lächelnd, mit ihrem Blick.
»Monsieur Jonas, man taucht nicht einfach nach Lust und Laune bei anderen auf.«
»Ich dachte mir …«
Sie legte ihren Finger auf meinen Mund.
»Denken kann man sich vieles.«
Meine Verlegenheit verwandelte sich in dumpfe Wut. Warum behandelte sie mich so? Wie konnte sie so tun, als wäre zwischen uns nichts gewesen? Sie musste doch ahnen, warum ich gekommen war.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie:
»Ich melde mich schon, wenn ich Sie brauche. Man muss den Dingen Zeit lassen, verstehen Sie? Sie zu überstürzen heißt, sie zu verpatzen.«
Ihr Finger zeichnete zärtlich die Konturen meiner Lippen nach, öffnete sie und schob sich zwischen meine Zähne. Er verweilte kurz auf meiner Zungenspitze, dann zog er sich sachte zurück und verschloss mir wieder den Mund.
»Eins sollten Sie wissen, Jonas: Bei den Frauen findet alles imKopf statt. Sie sind erst dann bereit, wenn sie im Geist alles geordnet haben. Sie beherrschen ihre Gefühle.«
Sie ließ mich nicht aus den Augen, blickte mich streng und unnachgiebig an. Ich hatte den Eindruck, nichts als die Frucht ihrer Einbildung zu sein, ein Objekt in ihrer Hand, ein Welpe, den sie gleich auf den Rücken drehen würde, um ihm mit der Fingerspitze den Bauch zu streicheln. Ich legte es nicht darauf an, die Dinge zu überstürzen und mir jede Chance zu verderben, ihr durch den Kopf zu gehen . Als sie ihre Hand zurückzog, war mir klar, es war an der Zeit, mich zu verabschieden … und darauf zu warten, dass sie sich melden würde.
Sie begleitete mich nicht zum Gartentor.
Ich habe viele Wochen gewartet. Der Sommer 1944 ging schon dem Ende zu, und noch immer hatte Madame Cazenave sich nicht gemeldet. Sie ließ sich nicht einmal mehr im Dorf blicken. Wenn Jean-Christophe uns auf dem Hügel zusammenrief und Fabrice uns seine Gedichte vortrug, hatte ich nur Augen für das große weiße Haus an der Piste zum Marabout. Manchmal meinte ich sie im Hof zu erkennen, ihr weißes Kleid im hellen Lichtschein der Ebene leuchten zu sehen. Zu Hause ging ich abends auf den Balkon und lauschte dem Geheul der Schakale, in der Hoffnung, so ihr Schweigen zu übertönen.
Madame Scamaroni chauffierte unsere Viererbande regelmäßig nach Oran zum Boulevard des Chasseurs, doch ich erinnere mich weder an die Filme, die wir dort gesehen haben noch an die Mädchen, denen wir begegnet sind. Simon war es allmählich leid, mich immer so geistesabwesend zu erleben. Eines Tages schüttete er am Strand einfach einen Eimer Wasser über meinen guten Anzug, um mich in die Wirklichkeit zurückzubringen.
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