Die Schuld des Tages an die Nacht
nie im Stich gelassen.«
»Bekommst du davon kein Ohrensausen? Hört sich ja an wie ein alter Kahn kurz vorm Verschrotten.«
»Darangewöhnt man sich.«
Simon kurbelte die Scheibe herunter und überließ sein Gesicht dem Fahrtwind. Unter seinen Stirnlocken kam eine beginnende Glatze zum Vorschein. Ich merkte plötzlich, dass mein Freund langsam in die Jahre kam und warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, ob auch ich Spuren des Älterwerdens aufwies. Wir hatten im Nu Lourmel durchquert und brausten dem Meer entgegen. Stellenweise verlief die Straße über die Hügelkuppen und rückte den Himmel in Reichweite. Es war ein schöner Tag, dem der scheidende April kristalline Klarheit verliehen hatte, olympische Horizonte und ein unvergleichliches Gefühl der Fülle. So war es stets, wenn der Frühling bei uns seinen Abschied nahm; in Schönheit zu enden war für ihn Ehrensache. Die Obstgärten träumten im verfrühten Gezirpe der Grillen vor sich hin, und die Mücken tanzten funkelnd über den Stauseen wie ein paar Handvoll Goldstaub. Ohne die zerstörten Weiler, die hier und da vor sich hin moderten, hätte man sich im Paradies gewähnt.
»Ist das nicht der Wagen der Scamaronis?«, fragte Simon und deutete auf ein Auto, das unter einem einsamen Eukalyptus am Ende eines Stücks Macchia parkte.
Ich fuhr zur Seite und entdeckte Fabrice, der mit zwei Mädchen picknickte. Beunruhigt stand Fabrice auf und stemmte die Hände in die Hüften, unverkennbar in Abwehrhaltung.
»Hab ich’s dir nicht gesagt, dass er kurzsichtig ist?«, witzelte Simon, während er schon die Tür öffnete, um auszusteigen.
Fabrice musste rund hundert Meter auf uns zumarschieren, bevor er mein Auto erkannte. Erleichtert blieb er stehen und winkte uns zu sich.
»Na, wir haben dir ja ganz schön Angst eingejagt!«, scherzte Simon nach einer kräftigen Umarmung.
»Was treibt ihr denn in dieser Gegend?«
»Wir wollten uns ein bisschen die Landschaft ansehen. Bist du sicher, dass wir dich nicht stören?«
»Ich habe bloß keine Gedecke für euch vorgesehen. Solange es euch nicht stört, dass ich mit den Damen Apfelkuchen esse, ist alles bestens.«
Die beiden jungen Mädchen zupften ihre Blusen zurecht und zogen sittsam die Säume über die Knie, um uns zu begrüßen. Émilie Cazenave bedachte uns mit einem wohlwollenden Lächeln; die andere warf Fabrice einen fragenden Blick zu. Schnell erklärte er:
»Jonas und Simon, meine besten Freunde …«
Dann stellte er uns die Unbekannte vor:
»Hélène Lefèvre, Journalistin beim L’Écho d’Oran . Sie schreibt gerade eine Reportage über unsere Gegend.«
Hélène reichte uns eine parfümierte Hand, die Simon flugs ergriff.
Die Tochter von Madame Cazenave sah mich mit ihren schwarzen Augen so eindringlich an, dass ich ihrem Blick ausweichen musste.
Fabrice lief derweil zum Auto und kam mit einer Strandmatte zurück, die er für uns auf einem Streifen Erde ausbreitete. Simon hockte sich ohne Umschweife vor einen Weidenkorb, stöberte ein bisschen herum, fand ein Stück Brot, schnitt mit einem Messer, das er aus seiner Gesäßtasche hervorzog, rasch ein paar Scheiben Wurst ab. Die Mädchen wechselten einige amüsierte Blicke angesichts der Ungeniertheit meines Gefährten.
»Wo wolltet ihr hin?«, fragte mich Fabrice.
»Zum Hafen, den Fischern dabei zusehen, wie sie ihren Fang abladen«, antwortete Simon mit vollen Backen. »Und du, was treibst du an einem solchen Platz mit so ausnehmend hübschen Mädchen?«
Wieder musterte Émilie mich. Las sie in meinen Gedanken? Wenn ja, was genau entschlüsselte sie? Hatte ihre Mutter ihr von mir erzählt? Hatte sie meinen Geruch im mütterlichen Schlafzimmer aufgefangen oder etwas entdeckt, das ich versehentlich zurückgelassen hatte, den Hauch eines Kusses oder die Erinnerung an eine unvollendete Umarmung? Warum hatte ichplötzlich das Gefühl, dass sie in mir las wie in einem offenen Buch? Und ihre Augen, mein Gott, ihre unwiderstehlichen Augen! Wie stellten sie es an, meine auszufüllen, sich in ihnen einzunisten, meine Gedanken zu sondieren, die kleinste Frage, die mir durch den Kopf schoss, abzufangen …? Dennoch, und ihrer unverschämten Neugier zum Trotz, musste ich mir eingestehen, dass es keine schöneren geben konnte. Flüchtig sah ich die Augen ihrer Mutter vor mir, in dem großen Haus an der Piste zum Marabout – derart strahlende Augen, dass man kein Licht anschalten musste, um bis an den Grund dessen zu blicken, was stets
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