Die Schuld des Tages an die Nacht
Geschäftsleben zu stürzen, um fortan sein eigener Herr zu sein.
Ich bekam ihn kaum noch zu Gesicht.
Auch Fabrice vernachlässigte mich ein wenig, aber er hatte triftige Gründe. Sein Flirt mit Émilie schien langsam Früchte zu tragen. Sie trafen sich täglich hinter der Kirche, und sonntags sah ich ihnen vom Balkon aus zu, wie sie durch die Weinfelder flanierten, bald zu Fuß, bald auf dem Fahrrad, er mit flatterndem Hemd, sie mit ihrer üppig wehenden Mähne im Wind. Ihnen dabei zuzusehen, wie sie den Hügel erklommen, sich vom Dorf und seinem Getratsch entfernten, war ein Genuss, und oft war ich in Gedanken mit von der Partie.
Eines Tages passierte ein Wunder. Ich war gerade dabei, Ordnung in die Regale unserer Apotheke zu bringen, da kam mein Onkel plötzlich gemessenen Schritts die Treppe herunter, durchquerte den großen Raum im Erdgeschoss, lief an mir vor beiund bewegte sich im Morgenrock … auf die Straße zu. Germaine, die ihm an den Fersen klebte, jeden seiner Schritte sorgsam bewachend, traute ihren Augen nicht. Mein Onkel hatte das Haus seit Jahren kein einziges Mal aus eigenem Antrieb verlassen. Nun stand er auf dem Absatz vor der Haustür, die Hände in den Tiefen seines Morgenmantels vergraben, und ließ seinen Blick durchs Tageslicht gleiten, über die Weinreben hinweg, bevor er weiterzog, bis zur Hügelkette hinten am Horizont.
»Ein schöner Tag!«, stellte er lächelnd fest. Seine Mundwinkel wären fast eingerissen, denn seine Lippen hatten die Elastizität eingebüßt, die jede Art von Mimik erfordert, und wir sahen, wie seine Wangen sich in unzählige Falten legten, ähnlich den konzentrischen Kreisen, die ein ins Wasser geworfener Kiesel auslöst.
»Soll ich dir einen Stuhl bringen?«, fragte Germaine, zu Tränen gerührt.
»Warum?«
»Um die Sonne zu genießen. Ich stell dir einen kleinen Tisch mitsamt Teekanne dazu, da beim Fenster. Dann kannst du in aller Ruhe deinen Tee trinken und den Passanten zusehen.«
»Nein«, sagte mein Onkel, »heute will ich keinen Stuhl. Ich habe Lust, ein wenig zu laufen.«
»Im Morgenrock?«
»Wenn es nur nach mir ginge, würde ich nackt loslaufen«, entgegnete mein Onkel und war schon weg.
Ein übers Wasser wandelnder Prophet hätte uns weniger verzückt als der Anblick meines Onkels.
Mein Onkel lief zur Piste, die Hände noch immer in den Taschen seines Morgenmantels, mit aufrechtem Rücken. Sein Schritt war gleichmäßig, fast militärisch. Er wandte sich einem kleinen Obstgarten zu, lief unschlüssig zwischen den Bäumen umher, machte wieder kehrt, folgte dann, vermutlich durch den panischen Flug eines Rebhuhns abgelenkt, der Richtung, die der Vogel genommen hatte, und verlor sich inmitten der Weinfelder.Germaine und ich blieben Hand in Hand auf dem Absatz vor der Haustür sitzen, bis er wieder zurück war.
Einige Wochen später kauften wir einen Gebrauchtwagen, den Bertrand, Germaines Neffe, der Automechaniker geworden war, uns persönlich vorbeibrachte. Es war ein kleines flaschengrünes Automobil, so rund wie der Panzer einer Schildkröte, mit harten Sitzen und einem Lenkrad, das eines Lastwagens würdig gewesen wäre. Bertrand forderte Germaine und mich auf, einzusteigen und drehte eine Runde mit uns, um uns zu zeigen, wie robust der Motor war. Es fühlte sich an, als wäre man in einem Panzer unterwegs. Später erkannten die Leute von Río den Wagen schon von weitem. Sobald sie sein Dröhnen hörten, riefen sie: »Achtung, die Artillerie!«, und stellten sich in Reih und Glied auf dem Gehweg auf, um zu salutieren, wenn er vorüberfuhr.
André meldete sich freiwillig, um mir Fahrstunden zu geben. Er begleitete mich auf ein freies Feld und beschimpfte mich bei jedem falschen Manöver auf das Wüsteste. Mehrmals warfen mich seine Vorhaltungen völlig aus der Bahn, und wir entkamen nur mit knapper Not einer Katastrophe. Als ich gelernt hatte, einen Baum zu umrunden, ohne ihn zu schrappen, und am Hang zu starten, ohne den Motor abzuwürgen, verschwand er im Galopp in seiner Snackbar, froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein.
Eines Sonntags nach der Messe schlug Simon vor, eine Spazierfahrt ans Meer zu unternehmen. Er hatte eine harte Woche hinter sich und brauchte ein bisschen Frischluft. Wir entschieden uns für den Hafen von Bouzedjar und brachen nach dem Mittagessen auf.
»Wo hast du denn deine Karre her? Aus der Kaserne?«
»Ich weiß, mein Auto macht nicht viel her, aber es bringt mich überallhin, und bis jetzt hat es mich noch
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