Die Schuld des Tages an die Nacht
verschwiegen sein sollte, ins Innerste unserer uneingestandenen Schwächen. Ich war verwirrt und aufgewühlt.
»Mir scheint, wir sind uns vor langer Zeit schon einmal irgendwo begegnet.«
»Ich glaube kaum, Mademoiselle, daran würde ich mich erinnern.«
»Eigenartig, Ihr Gesicht kommt mir vertraut vor«, entgegnete sie.
Und fügte alsbald hinzu:
»Was machen Sie beruflich, Monsieur Jonas?«
Ihre Stimme war so sanft wie eine Gebirgsquelle. Sie hatte »Monsieur Jonas« genauso betont wie ihre Mutter, mit Nachdruck auf dem »s«, und damit dieselbe Wirkung bei mir ausgelöst, dieselben Fasern zum Schwingen gebracht …
»Er hockt ewig in seinem Eck«, antwortete Simon an meiner Stelle, eifersüchtig, weil seine erste Flamme an mir Interesse zeigte. »Ich dagegen bin Geschäftsmann. Ich habe ein Import-Export-Unternehmen gegründet und werde binnen zwei, drei Jahren ein reicher Knacker sein.«
Émilie achtete nicht auf Simons Witzeleien. Ich spürte ihren pechschwarzen Blick auf mir, der eine Antwort einforderte. Sie war so schön, dass ich sie nicht länger als fünf Sekunden anzusehen vermochte, ohne rot zu werden.
»Ich bin Apotheker, Mademoiselle.«
Eine vorwitzige Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht; sie schob sie anmutigaus der Stirn, als lüfte sie einen Vorhang über der eigenen Pracht.
»Wo denn?«
»In Río, Mademoiselle.«
Etwas blitzte auf in ihrem Gesicht, ihre Augenbrauen schnellten nach oben und das Stück Kuchen in ihren Fingern zerbrach. Fabrice, der ihre Verwirrung bemerkte, goss mir, selber konfus, rasch ein Glas Wein ein.
»Du weißt doch, dass er nicht trinkt«, ermahnte ihn Simon.
»Oh, Pardon!«
Die Journalistin nahm ihm das Glas ab und führte es an die Lippen.
Émilie ließ mich nicht mehr aus den Augen.
Zweimal kam sie mich in der Apotheke besuchen. Ich sorgte dafür, dass Germaine immer in meiner Nähe blieb. Was ich in Émilies Blick las, störte mich; ich wollte Fabrice nicht hintergehen.
Ich fing an, ihr auszuweichen und ließ mich von Germaine verleugnen, wenn sie anrief. Émilie verstand, dass mir ihr Interesse ungelegen kam, und mir die Art Freundschaft, die sie mir antrug, nicht behagte. Sie hörte auf, mich zu behelligen.
Der Sommer 1950 gab seinen Einstand mit dem Trara und Tamtam eines Jahrmarktsorchesters. Die Straßen wimmelten von Urlaubern, und an den Stränden herrschte Volksfeststimmung. Simon schloss den ersten lukrativen Vertrag ab und spendierte uns ein Abendessen in einem der schicksten Restaurants von Oran. Unser Spaßmacher übertraf sich an diesem Abend selbst. Seine gute Laune steckte alle im Raum an, und die Frauen wandten sich begeistert um, wenn er wieder sein Glas erhob, um sich in zwerchfellerschütternde Tiraden zu ergehen … Es war eine phantastische Soirée. Fabrice und Émilie waren da, und auch Jean-Christophe, der Hélène unablässig zum Tanzen einlud. Zu sehen, wie er sich nach wochenlanger De pression in vollen Zügen amüsierte, verlieh dem Abend einenbesonderen Akzent. Wir vier waren wieder vereint, zusammengeschmiedet wie die Forkenzinken, glücklich, zu spüren, dass unsere Lebensfreude im gleichen Rhythmus pulsierte. Alles wäre bestens gewesen, ohne diese unerwartete, unpassende, unselige Geste, die mich fast umgebracht hätte – als nämlich Émilies Hand unter den Tisch glitt und sich auf meinen Oberschenkel legte. Ich verschluckte mich an der Limonade. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre auf allen vieren am Boden erstickt, während man mir kräftig auf den Rücken klopfte, um meine Luftröhre zu befreien … Als ich wieder zu mir kam, fand ich einen Gutteil der Gäste über mich gebeugt; Simon entfuhr ein Schrei der Erleichterung, als er sah, wie ich mich am Tischbein in die Höhe zog. Émilies Augen aber hoben sich schwärzer denn je von ihrem Gesicht ab, so bleich war sie geworden.
Am nächsten Vormittag, kurz nachdem mein Onkel und Germaine fort waren, die sich neuerdings angewöhnt hatten, morgens eine Runde durch die Weinfelder zu drehen, tauchte Madame Cazenave überraschend in der Apotheke auf. Trotz des Gegenlichts erkannte ich sofort ihre Dünensilhouette, ihren stolzen Gang und ihre spezielle Art, sich gerade zu halten, mit angehobenem Kinn und zurückgenommenen Schultern.
Sie blieb einen Moment zögernd im Türrahmen stehen, wohl, um sich zu vergewissern, dass sie mich allein antraf; dann trat sie ein und erfüllte den Raum mit einem diffusen Gemisch aus Schattenspiel und Stoffgeraschel. Ihr Parfum
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