Die Schuld des Tages an die Nacht
überlagerte merklich den Geruch der Apothekenregale.
Sie trug ein graues Kostüm, in dem sie so eingeschnürt war wie in einer Zwangsjacke, als müsse sie ihrem euphorischen Körper verbieten, hüllenlos durch die Straßen zu spazieren, dazu einen mit Kornblumen geschmückten Hut, der leicht schräg über ihrem gewittrigen Blick saß.
»Guten Tag, Monsieur Jonas.«
»Guten Tag, Madame.«
Sienahm die Sonnenbrille ab … Der Zauber wirkte diesmal nicht. Ich blieb kühl. Sie war eine Kundin wie jede andere, und ich längst nicht mehr der Knabe, der beim leisesten Lächeln in Ohnmacht fiel. Diese Erkenntnis verunsicherte sie, denn sie begann, mit den Fingern auf den Ladentisch zu trommeln.
»Madame …?«
Mein sachlicher Ton missfiel ihr.
Ihre Pupillen begannen zu flackern.
Doch Madame Cazenave behielt die Ruhe. Sie war nur dann ganz sie selbst, wenn sie den anderen ihre Regeln diktierte. Stets bereitete sie ihren Coup bis ins kleinste Detail vor und legte Ort und Zeit ihres Auftritts genau fest. Wie ich sie kannte, hatte sie die Nacht damit verbracht, sich Geste für Geste und Wort für Wort unseres Gesprächs zurechtzulegen, nur dass sie alles auf einen Jungen abgestimmt hatte, den es nicht mehr gab. Mein Gleichmut entwaffnete sie. Damit hatte sie nicht gerechnet. Im Geist überflog sie rasch ihre Pläne, aber die Grundgegebenheiten hatten sich geändert, und Improvisation lag ihr nicht.
Sie knabberte am Bügel ihrer Sonnenbrille, um das Zittern ihrer Lippen zu verbergen. Aber viel verbergen ließ sich da nicht. Das Zittern hatte längst ihre Wangen erfasst, ja, ihr ganzes Gesicht schien zu bröckeln wie ein Stück Kreide.
Sie lancierte aufs Geratewohl:
»Wenn Sie beschäftigt sind, komme ich später wieder.«
Suchte sie Zeit zu gewinnen? Trat sie den Rückzug an, um frisch gewappnet erneut anzugreifen?
»Ich habe nichts Besonderes zu tun, Madame. Worum geht es?«
Ihr Unbehagen wuchs. Wovor hatte sie Angst? Ich begriff, dass sie nicht gekommen war, um Medikamente zu kaufen, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was ihr wohl derart die Selbstsicherheit raubte.
»Unterschätzen Sie mich nicht, Monsieur Jonas!«, sagte sie, als könne sie meine Gedanken lesen. »Ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.«
»Ja …?«
»Ich finde Sie sehr arrogant … Warum bin ich wohl gekommen?«
»Das werden Sie mir sicher gleich sagen.«
»Sie haben nicht die leiseste Ahnung?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht.«
Ihre Brust hob sich heftig; sekundenlang hielt sie den Atem an. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und stieß so schnell hervor, als fürchte sie, unterbrochen zu werden oder dass ihr gleich die Luft ausgehe:
»Es ist wegen Émilie …«
Es war, als hätte man mit einer Nadel in einen großen Ballon gestochen. Ich sah, wie ihre Kehle sich zusammenzog und sie krampfartig schluckte. Sie war erleichtert, von einer unsäglichen Bürde befreit, und hatte zugleich das Gefühl, ihre letzten Reserven für eine Schlacht angezapft zu haben, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte.
»Émilie, meine Tochter«, erklärte sie.
»Das habe ich verstanden. Aber was hat das mit mir zu tun, Madame?«
»Lassen Sie die Spielchen, junger Mann. Sie wissen ganz gut, wovon ich rede … In welcher Beziehung stehen Sie zu meiner Tochter …?«
»Da liegt wohl eine Verwechslung vor, Madame. Ich stehe in keinerlei Beziehung zu Ihrer Tochter.«
Ihre Finger verbogen den Bügel ihrer Sonnenbrille; sie merkte es nicht einmal. Ihr Blick belauerte den meinen, lauerte auf ein Zeichen der Schwäche. Ich sah sie unverwandt an. Sie beeindruckte mich nicht mehr. Ihr Argwohn berührte mich kaum, allerdings weckte er meine Neugier. Río war ein Dorf, wo die Mauern durchsichtig und die Türen schnell eingetreten waren. Die bestgehüteten Geheimnisse verbreiteten sich wie der Blitz unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und Gerüchte machtenschnell die Runde. Was erzählte man sich über mich? Es gab nichts zu erzählen, und niemand interessierte sich für mich.
»Sie redet nur von Ihnen, Monsieur Jonas.«
»Unsere Clique …«
»Ich spreche nicht von Ihrer Clique. Ich spreche von Ihnen und meiner Tochter. Ich möchte wissen, welcher Art Ihre Beziehung ist und wie es weitergehen soll. Ich will wissen, ob Sie beide Zukunftspläne schmieden, ernsthafte Absichten haben … ob zwischen Ihnen etwas gewesen ist.«
»Nichts ist gewesen, Madame Cazenave. Émilie ist in Fabrice verliebt,
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