Die Schuld einer Mutter
den guten, alten Schichtdienst. Als sie bei der Schutzpolizei noch regelmäßig Nachtschichten übernommen hatte, waren ihr die alltäglichen Erledigungen sehr viel leichter gefallen. Nun sieht sie ihr Spiegelbild in der Glastür am Kopf der Treppe und fährt sich kurz mit den Fingern durchs Haar. Einzelne Strähnen sind aus dem Pferdeschwanz gerutscht. Sie weiß nicht mehr, wann sie das letzte Mal beim Friseur war.
Das Wartezimmer ist überfüllt, und Joanne lässt instinktiv den Kopf hängen. Sie bemüht sich, in Windermere nicht weiter aufzufallen. Sie ist schlau genug, sich nicht überall als Kriminalbeamtin vorzustellen.
Kürzlich hatte sie einen Artikel darüber gelesen, dass die Polizei bei der Arbeit »sichtbarer« sein sollte. Irgendein dummer Regierungsberater hatte vorgeschlagen, angesichts der Budgetkürzungen das meiste aus den verbliebenen Beamten herauszuholen. Auf vermehrte Präsenz in der Öffentlichkeit zu setzen – der Bobby an der Ecke, dein Freund und Helfer und so weiter.
Zu dem Konzept gehörte, dass Polizisten die Uniform schon für den Weg zur Arbeit anlegen sollten. Beim Lesen hatte Joanne laut gelacht. Man sollte seine Wohnung in Uniform verlassen? Es würde keinen Tag dauern, und man hätte zerplatzte Eier an den Fensterscheiben und zerstochene Autoreifen. Selbst wenn man in einer netten Gegend wohnt.
Joanne gibt ihre Patientendaten in das Computerterminal in der Wand ein, um die Arzthelferinnen über ihre Ankunft zu informieren. Die alten Leute machen von der Tastatur keinen Gebrauch; manchmal kann man seine Wartezeit verkürzen, weil die älteren Leute auf die Rezeptionistin warten müssen. Joanne setzt sich neben eine freundliche alte Lady, die sie fragt: »Und, Grippeimpfung?« Joanne bejaht der Einfachheit halber.
Die Arztpraxis verfügt über eine angeschlossene Apotheke, was Joanne für eine geniale Idee hält. So ist es nicht nötig, mit dem Rezept in der Hand im Regen herumzuirren, nur um festzustellen, dass nach siebzehn Uhr alles geschlossen ist. Die Apotheke hat sich den Öffnungszeiten der Praxis angepasst, sodass man alles in einem Aufwasch erledigen kann.
Joanne entdeckt eine Ausgabe des Magazins World of Interiors , das ihre Tante Jackie immer »World of Inferiors« nennt, entscheidet sich dann aber für die Dezemberausgabe von Good Housekeeping . Es ist ungewöhnlich, eine aktuelle Zeitschrift in diesem Wartezimmer vorzufinden, denkt sie, und kurz darauf taucht sie in die Welt der gelungenen Weihnachtsessen ab. Warum sich nicht einmal an einer Gans versuchen? Oder an einem Perlhuhn? Ihr Blick bleibt am Foto einer Lachsterrine hängen (geeignet für Diabetiker) – aber in Wahrheit lösen sich ihre Gedanken niemals wirklich von dem vermissten Mädchen.
Als Joanne neu bei der Kriminalpolizei war, fand sie es schwierig, neben dem Job noch ein Privatleben zu haben. Sie ist nicht wie jene Fernseh-Detectives, die niemals abschalten, nach der Arbeit zu viel Alkohol trinken, sich gegen ihren Chef und alle Regeln auflehnen und sich im Laufe der Jahre von ihrer Familie entfremden.
Nein, Joannes Problem war anderer Natur. Sie musste feststellen, dass sie unter schweren Schuldgefühlen litt, sobald sie sich erlaubte, für einen Moment an etwas anderes zu denken als den aktuellen Fall. Sobald sie sich einer banalen Alltagstätigkeit widmete.
Wenn sie einmal nicht an ihre Arbeit dachte, plagte sie das Gefühl, eigentlich daran denken zu müssen.
Inzwischen hat sie sich an das schlechte Gewissen gewöhnt. Sie kommt besser damit zurecht. Sie vergleicht es mit dem kreativen Prozess, von dem manche Künstler sprechen. Ihre Aufmerksamkeit wird durch andere Dinge abgelenkt, während ihr Unterbewusstes in Eigenregie vor sich hinarbeitet, Ideen entwirft und Probleme löst.
Joanne hat festgestellt, dass die Antworten – lässt sie ihre Gedanken entspannt wandern – auf einmal vor ihr auftauchen wie Verkehrshütchen. Im ersten Moment ist nichts zu sehen, im nächsten tauchen die Lösungen auf, wohin sie auch blickt.
Sie hört das Summen, mit dem der nächste Patient aufgerufen wird, und sieht ihren Namen auf dem Bildschirm. Die alte Dame neben ihr scheint sich darüber zu wundern, dass Joanne vor ihr drankommt. Joanne macht sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, dass sie doch nicht wegen einer Grippeimpfung gekommen ist.
Sie ist nervös, weil sie sich ausziehen muss. Sie ist nicht prüde, sie ist kein bisschen schüchtern, aber sie mag es einfach nicht, in das Gesicht der Person
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