Die Schuld einer Mutter
zu sehen, vor der sie sich auszieht.
Sie klopft vor dem Eintreten an, und Dr. Ravenscroft, ihr Hausarzt seit ewigen Zeiten, ruft sie herein. »Joanne! Wie schön, Sie zu sehen. Setzen Sie sich. Wie geht es Ihnen?«
»Gut, vielen Dank.«
»Und Ihre Tante? Ich habe sie länger nicht gesehen.«
»Sie ist immer noch die Alte – wir nennen sie schließlich nicht umsonst ›Mad Jackie‹.«
Er kichert.
»Dann wohnt sie also immer noch bei Ihnen?«, fragt er.
»Wahrscheinlich werde ich sie niemals los.«
Er lächelt verständnisvoll. »Und was ist mit Ihnen? Jagen Sie immer noch Verbrecher?«
»Ich gebe mein Bestes.«
»Wie wunderbar. Wunderbar.« Er tippt auf der Tastatur herum, um sich ihre Daten anzeigen zu lassen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wünsche mir eine Brustverkleinerung.«
Er sieht nicht auf. »Ich persönlich bin ja kein großer Fan davon«, murmelt er gedankenverloren, und Joanne weiß nicht, was sie darauf antworten soll. »Leiden Sie unter Rückenschmerzen? Unter wund geriebenen Stellen?«
»Könnte man so sagen«, sagt sie. »Die Rückenschmerzen sind nicht chronisch, aber wenn sie zuschlagen, sind sie wirklich schlimm. Mein eigentliches Problem sitzt hier«, sagt sie und zeigt auf die Stelle zwischen Hals und Schulter.
»Der Trapezmuskel«, sagt er. »Der verspannt sich wohl ganz gerne, was?«
Joanne drückt mit dem Daumen auf die Haut. »Er ist steinhart. Außerdem habe ich Dellen von den BH-Trägern, die nicht mehr weggehen.«
Sie greift sich unter die Bluse und zieht den rechten BH-Träger aus der Furche, die er in den Muskel gedrückt hat. Die Erleichterung ist nur vorübergehend, als sie über die Haut reibt. Sie legt den Zeigefinger in die Rinne, die der Träger hinterlassen hat; sie ist einen Zentimeter tief. Der Schmerz ist brennend.
»Leidet Ihre Arbeit darunter?«, fragt er.
»Manchmal.«
Sie möchte ihm nicht die ganze Wahrheit erzählen. Sie möchte ihm eigentlich nicht erzählen, dass sie sich beim Joggen gedemütigt fühlt, dass sie nie ohne Schamgefühl in ein Verhör hineingeht. Sie tut ihr Bestes, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich nicht unterkriegen zu lassen, aber nun, mit Ende dreißig, ist die Angst, lächerlich gemacht zu werden, stärker denn je.
Der Doktor nickt ernst. »Sie wissen, dass Sie danach kein Baby mehr stillen können?«
»Ich habe nicht einmal einen Freund – stillen steht, ehrlich gesagt, nicht ganz oben auf meiner To-do -Liste.«
»Aber das könnte sich ganz schnell ändern«, sagt er und klingt plötzlich beschwingt. »Wenn ein fescher Typ daherkommt und Sie umhaut!«
Joanne sieht ihn nur an.
»Sagen Sie niemals nie«, fährt er fort. »Ein hübsches Mädchen wie Sie, da taucht doch sicher einer aus der Versenkung auf, um Sie zu entführen und zu seiner Frau zu machen …«
»Und was mache ich dann mit meinem Einhorn?«, fragt Joanne lapidar.
Joanne bekommt eine Überweisung zum plastischen Chirurgen.
Sie verlässt das Sprechzimmer von Dr. Ravenscroft, geht bei der Blutabnahme vorbei und an dem Behandlungsraum, wo die alten Leute ihre Grippeimpfung bekommen, vorbei am Lagerraum der Putzfrau, und durchquert noch einmal den Wartebereich. Sie will eben die Glastür aufstoßen und hinausgehen, als sie eine bekannte Stimme hört.
»Ist auf das Rezept eine Gebühr fällig?«, fragt die Apothekerin den Mann.
»Ja«, lautet die Antwort. Und dann: »Ach, nein, nicht. Für dieses hier bezahle ich nicht … es ist für ein Kind … sehen Sie, hier!«
Verständnisvoll sagt die Apothekerin: »Ach ja, natürlich. Ich bin gleich zurück.«
Guy Riverty, der auf ein Medikament wartet. Was macht er hier? Sollte er nicht draußen mit dem Suchtrupp unterwegs sein?
Joannes erster Gedanke ist, dass er sicher etwas für Kate abholt. Irgendetwas zur Beruhigung, ein Schlafmittel vielleicht. Aber dann hat er gesagt, das Medikament wäre für ein Kind. Ohne Rezeptgebühr.
Joanne beschließt, draußen im Auto zu warten.
Sie setzt sich ans Steuer und wirft einen Blick auf die Temperaturanzeige: minus sieben Grad. Sie dreht den Zündschlüssel im Schloss, um die Heizung einzuschalten, und sofort dröhnt laute Musik aus dem Radio. Eine von Tante Jackies Michael-Bublé-CDs, die sie pausenlos hört. »Was für ein schmieriger Typ«, murmelt Joanne und dreht die Musik aus.
Sie schaltet das Abblendlicht ein, um im Inneren des Wagens nicht sofort gesehen zu werden. Sie erinnert sich an die Aussage von Lisa Kallisto heute Vormittag. Sie sagte,
Weitere Kostenlose Bücher