Die Schuld einer Mutter
ich rede einfach weiter.
»So machen Journalisten das doch. Sie schreiben: ›Mr Soundso, der in seiner Achthunderttausend-Pfund-Villa einem bewaffneten Raubüberfall zum Opfer fiel.‹ Das ist doch genau dasselbe. Sie schreiben den Leuten vor, wie viel Mitleid sie für ein Opfer zu empfinden haben, anstatt einfach nur über den Fall zu berichten. Sie widern mich an.«
»So läuft das Nachrichtengeschäft nun einmal, Mrs …« Sie hält inne, und ich wiederhole meinen Namen: »Kallisto.«
Der Anflug eines Lächelns huscht über ihre Lippen. »Ach so. Nicht zufälligerweise dieselbe Mrs Kallisto, die sich eigentlich um Lucinda Riverty hätte kümmern sollen, oder? Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?«
Das verschlägt mir die Sprache. Entsetzt starre ich sie an.
»So war das nicht«, bringe ich schließlich heraus. »Es war ganz anders …«, aber sie ist schon dabei, mir das digitale Aufnahmegerät wieder ins Gesicht zu halten.
»Warum erklären Sie mir dann nicht mit Ihren eigenen Worten, was passiert ist?«
Ich werfe einen Blick zu Kates Haus hinauf. Sie steht immer noch im Wohnzimmerfenster und bedeutet mir mit einer Geste, heraufzukommen.
Ich drehe mich zu der Reporterin um. Ich weiß, dass ich schuldig bin. Ich weiß, dass Lucinda nur meinetwegen verschwunden ist. Aber kann ich das vor dieser Frau laut aussprechen? Kann ich es vor der ganzen Nation laut aussprechen und mich verurteilen lassen, weil mir diese bösartige Frau die Wörter im Mund verdreht? Nein, auf keinen Fall. Ich weiß, das ist feige, aber ich schaffe es einfach nicht, die Worte über meine Lippen zu bringen.
»Mrs Kallisto«, fängt sie an, aber ich schlage ihr vor, einfach zu verschwinden. Dann gehe ich zum Haus hinauf.
Kate steht im Flur, als ich eintrete. Eine Sekunde lang zögere ich. Sie sieht mein Zaudern und nimmt mich in den Arm. Sie fühlt sich unter den dicken Klamotten so mager und zerbrechlich an, dass ich denke: Wann ist das passiert? Wie konnte sie so viel abnehmen, ohne dass ich es bemerkt habe?
»Was wollte die Reporterin von dir?«, fragt sie.
»Nichts«, antworte ich betreten. »Sie wollte wissen, ob ich dich kenne. Ich habe ihr gesagt, dass wir Freundinnen sind, aber ihre Fragen wollte ich nicht beantworten.«
»Ich habe sie beobachtet.«
»Sie ist ein Vollprofi. Muss man wohl auch sein, wenn man in dem Geschäft überleben will.« Ich sage Kate nicht, was die Reporterin zu mir gesagt hat. »Die waren aber schnell hier«, sage ich stattdessen. »Die Medien.«
»Das liegt nur an diesem anderen Mädchen«, antwortet Kate. »Weil Lucinda schon das zweite Kind ist, das verschwunden ist.«
Meine Stimme ist schwach und zittrig. Ich möchte Kate fragen, wie es ihr geht, aber ich bringe die Frage nicht heraus, weil sie mir so unpassend erscheint. Ich weiß ja, dass es ihr nicht gut gehen kann. Ich weiß ja, dass sie am Rand des Irrsinns stehen muss und sich verzweifelt an jeden Halt klammert.
Sie sieht mich an, als könnte sie meine Gedanken erraten, und sie sagt: »Lisa, ich habe solche Angst. Ich habe so eine verdammte Angst.«
Das Herz bricht mir fast vor Mitleid. »Ich weiß«, sage ich leise. »Ich weiß.«
»Wo ist sie nur?«
»Wir werden sie finden.«
Kate reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie ist vollkommen erschöpft. Wir gehen in die Küche. Ich höre das leise Tapsen von Schritten und schließe daraus, dass sich im Obergeschoss Menschen aufhalten; aber im Vergleich zu sonst ist es im Haus geradezu ohrenbetäubend still. Wahrscheinlich sind alle draußen mit den Suchtrupps unterwegs.
Wir setzen uns an die Kücheninsel. An der Rückseite des Hauses zieht sich der Wintergarten entlang, der die Küche mit gleißend hellem Licht aus dem schneebedeckten Garten flutet.
Von meinem Sitzplatz aus kann ich das Spielhaus der Kinder sehen. Es ist in Pastellfarben gestrichen und sieht aus wie das Pfefferkuchenhaus von Hänsel und Gretel. Sally und Lucinda haben ganze Tage darin verbracht, als sie neun oder zehn Jahre alt waren. Sie haben Clubs gegründet, sich Geheimwörter ausgedacht und was Mädchen in dem Alter sonst noch so alles anstellen. All das scheint so schrecklich lange her zu sein.
»Ich weiß, wie dumm das klingt«, sagt Kate leise, »aber ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passieren würde. Ich dachte nicht, dass ich die Frau in den Nachrichten sein würde, die Frau, die alle bemitleiden. Ich dachte immer, ich wäre irgendwie geschützt. Ich dachte immer, so was kann mir nicht
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