Die Schuld einer Mutter
würde sie am liebsten mit der Faust auf das Armaturenbrett schlagen. Sie hat ihn verloren. Sie hat Guy Riverty verloren.
Der alte Mann nähert sich der Fahrertür und bedeutet Joanne, das Fenster herunterzulassen.
»Die Straße ist überfroren, das bringt nichts, meine Liebe.«
Seine Nase ist dunkellila, seine trüben Augen milchig.
»Sieht so aus«, antwortet Joanne.
»Sie könnten es über die Helm Road versuchen, aber ich an Ihrer Stelle würde das Auto einfach hier unten stehen lassen und zu Fuß weitergehen. Ich würde das Risiko nicht eingehen.«
Der Terrier sieht zu Joanne auf. Seine Barthaare sind ergraut, und er sieht aus wie ein Doppelgänger von Bob Carolgees Hundepuppe. Joanne lächelt ihn an; irgendwie tut er ihr leid, weil er bei diesen Temperaturen nach draußen geschleppt wurde.
»Auf der Straße liegt eine dicke Eisschicht«, erklärt der Mann. »Ich habe es nur mit denen hier bergab geschafft«, und er hebt den Fuß, um ihr die Stollen unter seinen Schuhen zu zeigen. »Wie Schneeketten, nur für Schuhe«, sagt er stolz.
Joanne weiß, dass sie den Hang in ihren Arbeitsschuhen nicht bewältigen kann. Die Sohlen taugen nichts auf glattem Untergrund.
»Wohnen Sie oben auf dem Berg?«, fragte Joanne.
»Jawohl. Belle Isle View. Ehrlich gesagt dürfte ich gar nicht hier unten sein, ich habe mir letztes Jahr bei dem Wetter das Schienbein gebrochen, aber Terence wird ungemütlich, wenn er auf seinen Abendspaziergang verzichten muss.«
Terence sieht so aus, als würde er sich am liebsten zum Sterben in den Schnee werfen.
»Haben Sie den weißen Audi schon mal hier gesehen?«, fragt Joanne.
»Den, der gerade den Berg raufgefahren ist?«
»Ja.«
»Ich glaube nicht. Der wohnt nicht hier, so viel ist sicher. Ich kenne jeden in unserer Siedlung, da fährt niemand so ein Auto. Wir haben aber ein paar Range Rover.« Er muss lächeln. »Aber eigentlich können die Leute sich die gar nicht leisten. Die sind nur zum Angeben da. Die werden alle verschwinden, sobald das Geld zur Neige geht. Die Leute müssen den Gürtel enger schnallen, wissen Sie.«
»Müssen wir das nicht alle?«, fragt Joanne zurück. »Dann können Sie sich also nicht erinnern, den Wagen schon einmal gesehen zu haben?«
Er schüttelt den Kopf. Dann legt er ihn schief und wirft ihr einen verwunderten Blick zu. »Warum wollen Sie das eigentlich wissen? Sind Sie seine Frau?«
Joanne lacht. »Ich bin einfach nur neugierig«, sagt sie und bedankt sich.
Sie lässt den Wagen ein Stück rückwärts rollen und versucht dann zu wenden. Die Reifen drehen noch mehrmals durch, aber schließlich schafft sie es.
Sie will gerade losfahren, als der alte Mann ihr vom Gehweg aus zuwinkt.
Na super, eine Gratisfahrstunde, denkt sie.
»Mir ist eben noch was eingefallen«, ruft er. »Das Auto habe ich hier noch nie gesehen, aber den Mann schon. Er fährt sonst einen anderen Wagen, ebenso protzig. Welche Marke, kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber ich erinnere mich an den Zigarillo. Er hat immer einen im Mund, wenn er hier vorbeikommt.«
Joanne ruft: »Herzlichen Dank«, und sie kann sehen, wie zufrieden er ist, ihr geholfen zu haben.
Sie winkt ihm noch einmal zu und fährt davon.
»Joanne, Schätzchen, bist du es?«
Joanne tritt durch die Haustür, und die Wärme schlägt ihr entgegen. Sie geht schnurstracks zum Thermostat und dreht ihn herunter. Ihre Tante Jackie heizt das Haus wie einen Backofen. Sie sagt, ihr wäre immer zu kalt. Aber jeden Abend nach dem Essen dösen die zwei wegen der Hitze auf dem Sofa ein. Wie zwei Touristinnen im Spanienurlaub nach einem späten Mittagessen und einem Liter Sangria.
Mad Jackie wohnt jetzt seit fast einem Jahr bei Joanne, seit ihrer Privatinsolvenz. Kurz vor ihrem Einzug war Martin, Joannes Lebensgefährte für drei Jahre, ausgezogen. Er hatte beschlossen, die Beziehung nicht weiterführen zu wollen.
Joannes Freundinnen tobten vor Wut, sie nannten ihn ein Arschloch und schleiften Joanne durch die Pubs – die übliche Radikalkur gegen Liebeskummer. Alle waren sich einig, dass er irgendwo eine Neue haben musste, irgendein Flittchen.
Was aber, wie sich herausstellte, nicht stimmte. Wie sich herausstellte, hatte er keine Neue und lebte bis heute allein. Daran hatte Joanne insgeheim zu knabbern. Sie hätte nicht gedacht, dass es schlimmer sein könnte, als wegen einer anderen sitzen gelassen zu werden … war es aber. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. Ganz besonders, wenn sie ihm in der Stadt
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