Die Schuld einer Mutter
begegnete und er leidvoll das Gesicht verzog, als tue es ihm bis heute körperlich weh, sie im Stich gelassen zu haben.
Joanne hatte sich angewöhnt, das Victory-Zeichen zu machen, wann immer sie ihn traf. Das war albern, aber es half.
»Ja, ich bin’s«, ruft sie und streift ihre Schuhe ab.
Die Wohnzimmertür öffnet sich. »Das Essen steht im Ofen«, sagt Jackie und bleibt mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Schwelle stehen. »Warum kommst du so spät? Ich habe schon vor einer Stunde mit dir gerechnet.«
»Ich wurde aufgehalten.«
In der Uniform sieht Tante Jackie lustig aus. Sie ist Altenpflegerin. Sie trägt eine lila Kittelschürze, dazu weiße Strümpfe und weiße Clogs. Sie ist nicht gerade schlank. Im letzten Jahr hatte Jackie viel Stress, und wie so viele Frauen schluckte sie die Sorgen zusammen mit allen Kohlenhydraten hinunter, die sie in der Küche finden konnte.
»Hast du von dem vermissten Kind gehört?«, fragt Jackie.
»Ja, ich war heute bei den Eltern. Ich und Ron Quigley bearbeiten den Fall.«
Jackie lehnt im Türrahmen. Ihre Wangen sind gerötet. Vermutlich hat sie schon mehr als einen Bacardi Breezer getrunken.
»Meinst du, du kannst sie finden?«
Joanne zuckt mit den Achseln. »Hoffentlich. Was gibt es zu essen?«
»Panierten Fisch. Ist leider ein bisschen trocken geworden. Im Kühlschrank steht noch Remouladensoße. Ach, und zum Nachtisch gibt es noch leckere Erdbeerbiskuits.«
Joanne lächelt sie an. »Wie viele hast du gegessen?«
»Zwei. Aber eins habe ich dir übrig gelassen!«
Jackie folgt Joanne in die Küche. Joanne bewohnt ein Mittelreihenhaus im Zentrum von Windermere. Zwei Zimmer oben, zwei unten, und hinten die angebaute Küche. »Ich habe eben die Eltern im Fernsehen gesehen. Wie ging es ihnen, als du da warst?«, fragt Jackie.
»Die sind am Ende. Sie haben Todesangst. Was erwartest du? Sie heißen Riverty – kennst du die Familie?«
Jackie schüttelt den Kopf.
»Die Eltern haben gedacht, sie wäre nach der Schule mit zu einer Freundin gegangen und hätte dort auch übernachtet, aber die Freundin war an dem Tag gar nicht in der Schule … du weißt schon, eine Verkettung unglücklicher Zufälle. Ich habe mit der Mutter gesprochen, der Mutter von der Freundin, und …«
»Wie heißt sie? Ist sie von hier?«
»Lisa Kallisto.«
Jackie reißt die Augen auf und pfeift.
»Du kennst sie?«
»Ja. Eine nette Frau. Sie leitet das Tierheim. Ich war erst vor ein paar Tagen dort, um die Katze eines verstorbenen Kunden abzugeben. Sie hat mir dieses Jahr schon einige Tiere abgenommen … Immer wenn die Hinterbliebenen sie nicht übernehmen wollen.«
»Kunde« scheint ein unpassendes Wort für die Menschen, mit denen Jackie es zu tun hat. Meistens sind es ältere Leute, die noch zu Hause wohnen und Hilfe beim Aufstehen brauchen, beim Anziehen, deren Nachtstuhl geleert werden muss.
Wann immer Jackie von einem »Kunden« spricht, sieht Joanne vor ihrem geistigen Auge, wie ihre Tante rechtliche Auskünfte erteilt oder Steuerformulare ausfüllt. Nicht, wie sie Hintern abwischt und Wundverbände anlegt. Jackie kann manchmal ganz schön schwierig sein, aber Joanne weiß, dass sie eine hervorragende Pflegerin ist. Sie übernimmt zusätzliche Aufgaben, auf die die jungen Pfleger keine Lust haben. Wie Fingernägel lackieren oder in der Bücherei anrufen und Hörbücher bestellen … und Haustiere vermitteln, wenn ein »Kunde« tot im Bett liegt.
»Lisa Kallisto ist ein Arbeitstier«, sagt Jackie. »Sie gibt alles und kümmert sich von ganzem Herzen. Sie wird außer sich sein, wenn sie glauben muss, sie wäre für das Ganze verantwortlich …«
»Sie und diese andere Mutter sind befreundet – recht eng, wenn ich das richtig verstanden habe.«
Jackie holt durch die zusammengebissenen Zähne Luft, wobei ein scharfes Geräusch entsteht. »Wie schrecklich«, sagt sie, »stell dir das nur vor! Das Kind deiner Freundin verschwindet, und es ist deine Schuld. Das ist ja wirklich beschissen!«
Joanne kann es weniger gut nachvollziehen, da sie keine eigenen Kinder hat. Sie hätte sich welche gewünscht, aber die Chancen standen schlecht. Sie kannte eine Frau im Ort, die zur »Insemination« – so hatte sie es genannt – in eine Privatklinik nach Cheshire gefahren war.
»Zur Insemination?«, hatte Jackie ungläubig gefragt, als Joanne ihr davon erzählte. »Wieso ist sie nicht einfach ausgegangen und hat einen Typen flachgelegt?«
Jackies Sohn arbeitet im Ausland. In Dubai.
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